Prof. Dr. Horst Helle
Prof. Dr. Horst Helle während einer seiner ersten Vorlesungen in China

China-Tagebuch Teil 2 - Erlebnisse als Gastprofessor am Sanya College auf der Insel Hainan.

von Prof. Dr. Horst Helle
27.09.2010 | Soziale Arbeit | Schwerpunkte Kommentare (0)

Im zweiten Teil seines Berichts schildert Prof. Dr. Horst J. Helle u.a. seine ersten Erfahrungen an der Hochschule.

Hintergrund

Der Soziologe Horst Jürgen Helle wurde von der Stiftungsinitive Johann Gottfried Herder im Deutschen Akademischen Austauschdienst aus dem Ruhestand zurückgeholt und als Gastprofessor an das südlichste Kollege der Volksrepublik China nach Sanya auf der Insel Hainan vermittelt. Er ist seit 2002 mit einer Deutschen chinesischer Abstammung verheiratet, so dass er immer einer Übersetzerin bei sich hat. Helle und seine Frau Lilly haben drei Töchter: Lisa (7), Rita (5) und Emmy (2).

Woche 03: Sonntag, 5. September – Samstag, 11. September 2010

Sonntag, 5. September 2010 Der wohl leider nicht nur chinesischen Tendenz folgend, nach der Sonn- und Feiertage die Haupteinkaufstage geworden sind, nehmen wir den üblichen Bus zur Innenstadt von Sanya. Montag wird Rita fünf Jahre alt, und wir wollen ein Geburtagsgeschenk für sie einkaufen. Die Wahl fällt auf einen Roller, der hinten zwei beweglich aufgehängte kleine Hinterräder hat, die etwa 40 cm voneinander entfernt sind und mit entsprechendem Hüftschwung den Roller in Fahrt bringen können, ohne das ein Fuß den Boden berühren muss. Das Gerät ist preisgünstig und zum Selbstmontieren gut tragbar verpackt. Am Geburtstag stellt sich dann heraus, dass der Überraschungseffekt des Geschenks nicht nur in ihm selbst liegt, sondern auch in den Kreativleistung des Monteurs, die erbracht werden muss, ehe der Roller gebrauchsfertig ist. Mehrmals stand der Beschluss im Raum, das Gerät unter Protest zurückzubringen, doch dann hätte der Geburtstag ohne das Zentralgeschenk vorübergehen müssen, und ohnehin war der Montag aus anderen Gründen terminlich überlastet. Nach der Rückkehr aus der Innenstadt an diesem Sonntag beobachten wir, wie große Zahlen von Studenten mit Reisegepäck im College eintreffen, zum Teil von ihren Eltern begleitet. Montag, 6. September 2010 Heute ist Lisas erster Schultag, Ritas Geburtstag, und Ritas erster Kindegartentag. Das Happy-Birthday-Ritual fällt etwas verkürzt aus. Mit dem Anschleich-Elektro-Motorroller, den der Großvater inzwischen erworben hat, fährt er mit Lisa und Großmutter mütterlicherseits (in China als Apo angeredet, ohne Bezug zur außerparlamentarischen Opposition, die es in China schon darum nicht geben kann, weil es kein Parlament gibt) zur Busstation am Campus-Tor. Das neue Gefährt ist meistens mit drei oder sogar vier Personen (Fahrer und drei Kinder) besetzt, und ein deutscher Polizist müsste an schweren Sehstörungen leiden, falls er angesichts eines solchen Transports nicht zum Eingriff entschlossen wäre. Die Apo also bringt Lisa zum ersten Schultag in die Klasse 1 der zweiten Jahrgangsstufe; in München wäre das die Klasse 2a. Ab halb acht halten sich die Kinder, die im Internat der Schule wohnen, schon im Klassenzimmer auf, um dort laut lesen zu üben. Der von einer Lehrkraft geleitete Unterricht beginnt dann um 8 Uhr, montags bis freitags. Lisa muss also vor 8 Uhr eintreffen. Ebenfalls um 8 Uhr beginnt in unserer Nähe auf dem Campus der Kindergarten, den Rita als Normalmitglied und Tantan (die Kusine) und die kleine Emmy als Gäste besuchen.  Das Hinbringen macht Lilly. Der Kindergarten wirkt improvisiert und wenig professionell, und da die Türen nie konsequent verschlossen gehalten werden, wird er nicht nur von Kindern, sondern auch von Mücken frequentiert (Lilly vermutet, mehr von letzteren).
Während so unsere Großfamilie arbeitsteilig sinnvoll im Einsatz ist, ärgere ich mich mit der Rollermontage herum und staune über laute Schreie von größeren Personengruppen. Ein paar Schritte über den Campus machen sichtbar, dass an verschiedenen Plätzen die Studienanfänger beiderlei Geschlechts in militärischen Tarnuniformen exerzieren müssen und dabei wohl auf Chinesisch etwa „links, links, links, zwei, drei, vier“ laut rufen. In Gruppen zu 30 bis 40 Studenten eingeteilt, zumeist Frauen und Männer je für sich, üben sie marschieren, antreten, rechts um, Abteilung kehrt, und ähnliche Fertigkeiten. Da dies Geschehen so bis zum Ende der Woche weitergeht, besteht kein Grund, es mit dem Geburtstag der Rita zu verknüpfen, nur eins schon vorweg: Irgendwelche Übungen an der Waffe konnte ich nicht beobachten. Lisas Unterricht dauert vormittags von 8 – 11:50 Uhr und dann ist bis 14:40 Uhr Mittagspause. Danach geht der Unterricht bis 17 Uhr wieder weiter. Sie könnte in der Schule essen und gemeinschaftliche Mittagsruhe halten, doch sie möchte das nicht, und so wird sie von unserem Familienpendeldienst mittags hergeholt und wieder in die Schule gebracht. Wir haben also (mit dem Abholen um 17 Uhr) vier Lisaeinsätze (daran ist immer der Großvater mit dem Schleichgerät beteiligt, und meistens die Apo, manchmal – zu strategischen Gesprächen mit der Lehrerin – auch Lilly als Mutter) und zwei Kindergarteneinsätze, die weniger aufwendig sind, und die fast immer die Lilly macht. Inzwischen bleibe ich auf dem Campus und verfolge fasziniert die militärischen Übungen der Studienanfänger. Als gegen 18 Uhr alle Mitglieder unseres Matriclans wieder zurück sind, funktioniert endlich auch Ritas neuer Roller (ich habe nun das gute Gefühl, meinem Kind ein Geschenk gebastelt zu haben), und wir gehen zum Geburtstagfeiern noch nach draußen zum Rollerfahren und Ballspielen, obschon Lisa unbedingt noch für die Schule arbeiten muss, was dann anschließend auch geschieht. Dienstag, 7. September 2010 Dies ist unser 15. Tag in Sanya, und er ist insofern denkwürdig, als die Studienanfänger heute zweistündiges Strammstehen in tropischer Mittagshitze üben. Dabei wird ein sehr hochgewachsener junger Mann ohnmächtig und schlägt so unglücklich auf das Pflaster des Korbballplatzes auf, dass sein Kinn genäht werden muss. Lilly hört zwei uniformierte Kameradinnen von ihm auf dem Weg zum Mittagessen flüstern: Wie schade um ihm, er ist so ein schöner Mann! Die Tarnuniformen sind übrigens in Grautönen gehalten. Das vom Heer bei Tarnanzügen vertraute Braun und Grün fehlt ganz, was darauf schließen lässt, dass die Kampfbekleidung von der Kriegsmarine gestellt wurde. Eine ungewöhnlich beleibte Person, die ich für einen Mann hielt, von der sich später aber herausstellt, dass sie eine Kommilitonin (da kommt das Wort endlich wieder in seine ursprünglich Bedeutung zurück) ist, macht – so gut sie kann – alles in Zivil mit. Es war wohl keine passende Uniform gefunden worden. Doch am Mittwoch sehe ich ihn /sie plötzlich doch uniformiert: Vermutlich hat jemand über Nacht die erforderliche Kleidung genäht. Fast beiläufig werde ich gebeten, doch morgen einen Vortrag von etwa einer halben Stunde für die Studienanfänger zu halten: Was ist Soziologie, wie kann man Soziologie am besten studieren? – Nichts leichter als das, also fange ich rasch an, mir dazu etwas auf Englisch am Computer auszudenken. Mittwoch, 8. September 2010 Die Schul- und Kindergartenroutine läuft nun schon den dritten Tag. Lisa berichtet erstaunt und doch überraschend „cool“, dass alle Schüler sich Erheben, wenn die Lehrkraft den Klassenraum betritt, und dass die Kinder sich dann so verneigen, dass der Oberkörper im Winkel von 90 Grad nach vorn gebeugt ist, so dass das Gesicht fast die Tischplatte berührt. In dieser Haltung sprechen die Kinder dann im Chor: Lao-shi-hao (übersetzt, je nach Geschichtsbewusstsein als „Guten Morgen Frau Lehrerin!“ oder „Es ist gut (hao) alte und ehrwürdige (lao) Weisheit (shi), in deiner Gegenwart zu sein!). Als ich abends um 20 Uhr meinen ersten Auftritt im Hörsaal auf diesem Campus habe, machen das die Studenten mit mir nicht. Nach dem Militärtraining hatten sie gerade Zeit zum Duschen und Umziehen, und da muss man schon froh sein, wenn sie aufrecht sitzen. Für sie ist die englische Sprache noch eine zusätzliche Zumutung, und überhaupt kommt mir der Verdacht, dass ich mich einfüge in all die anderen Grausamkeiten, die man den jungen Leuten heute schon angetan hat. Andererseits bleiben auch ihre Leistungen an Gehorsam und Disziplin nicht ohne Eindruck auf mich, und als sie mich dann auch noch mit mehr als nur höflicher Begeisterung begrüßen, denke ich, sie meinen vielleicht, ich könnte aufgrund meiner vielfältigen Beziehungen nach Deutschland, ihnen allen 140 ein Visum zum Studium in Europa beschaffen. Zu der Zahl 140; das sind die Neulinge in Soziologie. Das College hat 20.000 Studenten, je Jahrgang sind es 5000, und die militärischen Aktionen, die in dieser Woche hier jeden Tag ablaufen, betreffen die 5000 Neulinge, von denen eben 140 Soziologie studieren wollen. Donnerstag, 9. September 2010 Der akademische Lehrbetrieb soll hier am Montag anfangen. Im Geschäftszimmer der Soziologen ist heute der Lehrplan fertig. Montag um 8 Uhr ist für mich die erste Lehrveranstaltung. Zur Vorbereitung auf die Lehre, erhalte ich vier DIN-A 4 Blöcke je (wahrscheinlich) 50 Seiten für handschriftliche Notizen und eine Hand voll von Kugelschreibern und Ersatzminen zum Nachfüllen, wenn einer leergeschrieben ist. Weit wichtiger ist die Zusage, ein eigenes Büro zu bekommen, voraussichtlich ab Montag. Jedenfalls habe ich nun auch einen Stundenplan, wie die Lisa für ihre Schule einen hat. Sie hat an normalen Tagen sieben Unterrichtsstunden, vier am Vormittag und drei an Nachmittag. Sechs verschiedene Lehrkräfte unterrichten bei ihr, eine Lehrerin in Chinesisch, eine andere gibt Englisch und die dritte Rechnen, die vierte Werken, die fünfte Musik, Sport unterrichtet ein Lehrer, und das Fach Ethik wird von der Chinesischlehrerin gegeben. Chinesisch ist in Lisas Stundenplan mit neun Stunden pro Woche vorgesehen, dazu kommen zwei Ethikstunden, also unterrichtet die Klassenlehrerin dort 11 Stunden lang. Für Rechnen gibt es sieben Wochenstunden. Englisch wird außer an Dienstagen jeden Tag unterrichtet, also vier Stunden pro Woche. Dann gibt es noch zwei Stunden Werken und eine Stunde Sport. Außerdem ist am Freitag nachmittags „Versammlung“ vorgesehen, aber davon ist die Lisa entschuldigt. Dabei könnte es sich um politische Erziehung handeln, aber das wissen wir nicht genau. Lisa hat dramatische Beispiele für körperliche Züchtigung erlebt. Es wird mit einem Lineal auf die Hand geschlagen, und in besonders schweren Fällen gibt es auch zwei Schläge mit einem Stock auf das entblößte Gesäß! Bei den Schlägen auf die Hand habe der betroffene Junge laut geweint, aber der andere Junge mit dem nackten Hintern habe nur leise geschluchzt, berichtet Lisa. Ich frage, wie es denn zu solchen Bestrafungen komme. Die Lehrerin habe in beiden Fällen gewarnt und angekündigt, wenn du das nicht lässt bzw. beim nächsten Mal, wenn du das machst, dann gibt es Schläge, doch diese Warnungen seien wohl nicht ernst genug genommen worden. Lilly meint, das habe sie als Kind nie erlebt, es sei nicht typisch für Grundschulen in China. Inzwischen geht das ganztägige Exerzieren der Erstsemester schon in den vierten Tag! Während unsere daheim gebliebenen Freunde und Verwandten in München froh sind, wenn die Temperaturen im September nicht zu weit unter 20 Grad sinken, sind wir hier froh, wenn sie nicht zu weit über 30 Grad steigen. Hinzu kommt aber noch die hohe Luftfeuchtigkeit, die alles viel schwieriger macht. Unter solchen Klimabedingungen treten die jungen Studenten, alle etwa 19 Jahre alt, morgens um 8 Uhr an und bleiben nach kurzer Mittagspause bis 18 Uhr oder länger in den Uniformen. Sie sitzen zeitweilig in Gruppen am Boden, aber überwiegend stehen sie angetreten  oder marschieren. Ein Trupp von 40 jungen Frauen, alle mit wippendem langen einheitlich schwarzen Pferdeschwanz, hat schon etwas Faszinierendes, und wenn sie dann auch noch den Stechschritt üben, liegt die Assoziation mit dem Ballett nicht mehr fern. Überhaupt fehlt die Einordnung dieser Aktionen dem Ausländer schwer. Lilly sagt, das militärische „Schleifen“ von Neulingen sei völlige Normalität in China, schon bei Beginn des sechsten oder siebten (hat sich im Laufe der Jahre geändert) Schuljahres für die etwa 13jährigen Anfänger der Oberschule. Die Nachbarn hier, die man darauf anspricht, finden es gut, dass diese oft verwöhnten Einzelkinder mal Disziplin und Unterordnung lernen müssen. Die schlechte Behandlung von Neulingen ist ja ein weitverbreitetes Kulturphänomen und wird als Initiationsritus oft beschrieben. Wir kennen das in Deutschland nicht nur als Rekrutenmisshandlung, sondern auch als Fuchsendienst in studentischen Verbindungen, und ich habe es unter der Bezeichnung „ontgroening“ (Entgrünung) als Student beim Rotterdamsch Studentencorps in den Niederlanden erlebt (www.hetrsc.nl). Freitag, 10. September 2010 Das Exerzieren für Erstsemester geht weiter. Außerdem ist heute ein Treffen der Ausländer, die an diesem College unterrichten, für 15 Uhr angesetzt. Einladende und gastgebende Personen sind Dr. Hu und Frau Che, die wir beide schon am 26. August kennengelernt hatten. In einem besonders gut ausgestatteten Hörsaal versammeln sich nach und nach 15 Personen, der ebenfalls schon bekannte Chinese mit einem amerikanischen Pass, eine Chinesin, die in Hamburg Anglistik studiert hat und sehr gut deutsch spricht, ein Engländer, der sich Monty anreden lässt, aber Vorster heißt und Wurzeln in Südafrika hat, eine Russin, die Germanistik studiert hat und mir ihr gutes Deutsch vormachen will, ein Mann aus der Ukraine, der ein wenig Chinesisch kann, aber kein Englisch, zwei Japaner, und Jeremy, ein junger Amerikaner aus Michigan und noch einige interessante Leute. Wir lassen einen zweisprachig gehaltenen Vortrag der Frau Che über uns ergehen, der mit „power point“ Folien untermalt und gleichwohl sehr langweilig ist. Es geht um Regeln und viel Bürokratie. Alle sind erleichtert, als wir dann geschlossen in ein benachbartes Gebäude gehen, wo in einem angenehmen Aufenthaltsraum ein Buffet aufgebaut ist mit Getränken, Keksen und vielen Früchten. Hier kann man mit jedem, den man interessant findet, zwanglos plaudern. Endlich werden wir genötigt, in einer Runde Platz zu nehmen, um dem Begrüßungsvortrag von Dr. Hu zu lauschen. Danach mache ich ein wenig vorlaut den Vorschlag, jeder möge doch von seinen wissenschaftlichen Schwerpunkten berichten und über seine aktuellen Forschungsprojekte plaudern. Nach einigem Zögern meint Frau Che, ich solle damit mal anfangen. Das lehne ich ab, denn dann würde es so aussehen, als hätte ich meinen Vorschlag gemacht, um mich selbst in Szene zu setzen. Da teilt für mich ganz überraschend Frau Che mit, ich sei der einzige aktive Wissenschaftler, alle anderen (mit Ausnahme des mehrfach erwähnten Chinesen mit dem US-Pass) seien Sprachlehrer. Etwas verwirrt frage ich, ob es hilfreich wäre, wenn ich hier Deutsch unterrichten würde. Nein, das ist hier nicht vorgesehen, die versammelten Auslandslehrer unterrichten mit sinnvoll verteilten Rollen die Sprachen Englisch, Japanisch und Russisch (und, wenn man denn so will, die Sprache der Soziologen). Samstag, 11. September 2010 Befreit von den Einengungen durch Schule und Kindergarten fahren wir mal wieder alle in die Innenstadt. Wir hatten fest damit gerechnet, dass der Exerzierspuk der Erstsemester auf dem Campus am Freitag abends sein Ende finden würde. Das ist jedoch nicht der Fall; es geht auch heute am Samstag noch weiter. Es stellt sich allerdings dann heraus, dass dies wirklich der Abschlusstag dafür ist. Weil das Restaurant, in dem wir mit dem Autoverkäufer gegessen hatten, allen gut gefiel, verabreden wir uns dort mit meinen Schwiegereltern, die andere Vorhaben in der Innenstadt verfolgen. Lilly und ich sind mit den Kindern etwas früher da, und als Lillys Eltern eintreffen, entdeckt ihre Mutter, dass einige Teile des gedeckten Geschirrs ein wenig abgeschlagene Kanten haben. Mit Entrüstung und Entschiedenheit fordert sie, diese Teile durch unbeschädigte zu ersetzen, was die devoten Kellnerinnen sofort ohne Gegenrede machen.
Nach dem wie erwartet guten Essen finden wir die Linienbusse stark überfüllt und entscheiden, dass Lilly und ich mit den Kindern eine Taxe nehmen. Ich halte, wie es sich gehört, die hintere Autotür, damit meine Leute dort einsteigen können, und als ich mich dann neben den Fahrer setzen will, rufen er auf Chinesisch und Lilly auf Deutsch aufgeregt, mir sei soeben das Handy aus der Hosentasche gestohlen worden. Weil ich davon nichts gemerkt hatte, musste ich das nachprüfen und fand es leider bestätigt, es war  wirklich weg. Ohnmächtig fuhren wir wie geplant mit der Taxe los, und der Fahrer erläuterte, es sei ein Trick, sich im Gedränge um Taxis mit einer Pseudo-Familie zu umgeben und aus diesem Schutzschild heraus dann die diebische Aktion auszuführen. Mein Handy war alt, wir ließen sofort telefonisch die SIM-Karte sperren, es war also nicht wirklich schlimm, aber schon aufregend und ärgerlich. Als wir endlich in den Wohnungen ankommen, fehlt auch das Handy meines Schwiegervaters. Lilly wählt die dazugehörige Nummer, und es meldet sich die Besatzung des Linienbusses, mit dem meine Schwiegereltern gekommen waren. Die Schaffnerin hatte das Telefon sichergestellt; es war ihm wohl unbemerkt aus der Tasche gefallen, und er kann es später an der Endstation der Buslinie wieder in Empfang nehmen. Zwei Handys am gleichen Tag zu verlieren, das wäre auch für unseren Clan etwas zu viel gewesen. Für mich bleibt die Dieberei folgenschwer, weil ich nun die gespeicherten Telefonnummern meiner deutschen Kontakte alle nicht mehr habe. Das lässt am Ende dieser dritten Woche erste leichte Heimwehgefühle aufkommen.

Woche 04: Sonntag, 12. September – Samstag, 18. September 2010

Sonntag, 12. September 2010 Lisa ruht von der Schule aus und arbeitet etwas nach, was inzwischen in München bei ihren deutschen Klassenkameraden gelernt wird. Ich frage Lisa, was sie denn hier in Sanya in ihrem Ethikunterricht durchnehmen. Lisa erzählt, die Lehrerin sei sehr ärgerlich gewesen, habe zweimal mit dem Stock laut auf das Pult geschlagen und dann darüber geklagt, dass es Jungen gebe, die auf der Treppe beim Heruntergehen die vor ihnen Gehenden schubsen. So ein Benehmen könne zu einem Massensturz führen, bei dem sogar Menschen totgetrampelt werden können. – Ich werde in einigen Tagen bei Lisa noch einmal fragen, welche Themen im Ethikunterricht noch behandelt werden. Wir bleiben auf dem Campus, auf dem wir inzwischen ein ganz gemütliches Restaurant, einen Friseur und allgemein einen Einkaufsbereich entdeckt  haben, der es überflüssig macht, zur Erledigung jeder Kleinigkeit in die Innenstadt zu fahren. Ich schau mir meine Lehrveranstaltungen am Computer an, und abends machen Lilly und ich einen „Probelauf“ zu dem Gebäude und Hörsaal, in dem morgen früh um 8 Uhr (also nicht 8:15 Uhr) meine erste Vorlesung beginnen soll. Das Universitätsgelände zeigt sich in seiner ganzen Schönheit. Niemand trägt mehr eine Uniform, es ist erstaunlich leise, weil der gesamte Verkehr mit elektrisch getriebenen Fahrzeugen abgewickelt wird. Ausnahmen sind nur einige wenige Personenautos, die hier zugelassen sind. Die Studentinnen tragen nun nette bunte Sommerkleidung, und das alles spielt sich unter Palmen und ähnlichen schönen tropischen Pflanzen ab, allerdings immer noch bei sehr hohen Temperaturen. Gegen Abend erhalten wir telefonisch die Mitteilung, dass ich nun ein Büro habe, allerdings sei der Computer dort noch nicht ans Internet angeschlossen. Ich besichtige es sofort; es ist erfreulich groß und gefällt mir wirklich gut. Montag, 13. September 2010 Der Wecker klingelt mich noch etwas früher heraus, als bisher schon immer für Lisas Schule nötig war. Überraschend steht der Großvater mit dem Elektroroller bereit, mich zum Hörsaalgebäude zu fahren. Dadurch habe ich etwas mehr Zeit, den Beamer zu starten und den Notebook-Computer anzuschließen. Den Hörsaal hatte ich ja gestern schon gesehen, nun ist er bis auf den letzten Platz besetzt, sogar ein oder zwei Stühle hat man zusätzlich hereingetragen, damit die schon bekannten 140 Studienanfänger der Soziologie alle Platz finden. Die Kühlung funktioniert nicht, aber an der Decke sind zahlreiche Ventilatoren, die alle in Bewegung sind. Unser erster Kontaktmann nach hier, der Soziologe Li Li ist auch erschienen. Ich bringe nach Peter L. Berger was Soziologie ist und was sie nicht ist anhand eines Textes, den die Studenten über Laptop und Beamer mitlesen konnten. Wie in der Schule wird nach 45 Minuten zur Pause geläutet, und wenn das passiert, muss man schnell schauen, dass man den Satz noch irgendwie zu Ende bringt, sonst passiert es wie in der Feuerzangenbowle: „Herr Professor, es hat geläutet!“. Im zweiten Durchgang (die Vorlesung ist vierstündig, also an zwei Tagen je 90 Minuten) entwickele ich in freier Rede die Grundlagen der philosophischen Anthropologie, von dem (hoffentlich) großen Gehirn des Menschen und der konstitutionellen Frühgeburt. Ich lasse nach einem Zettel, den Lilly vorbreitet hatte, von Li Li an die Tafel schreiben ADAM und TARZAN mit den chinesischen Zeichen darunter und stelle das Menschenbild von Rousseau als Drehbuch zu einem Tarzanfilm vor. Indem ich mit dem Mikrophon in der Hand so durch die Reihen gehe, kommt mir vor, dass einige nicht mehr folgen können. Ich mache mich über mich selbst lustig wegen der Hand mit dem Mikro und bringe den albernen Vergleich mit Elvis Presley, den keiner versteht; dann versuche ich es mit Michael Jackson, und da lachen sie. Elvis ist zu lange her; er war auch in China nicht unter seinem Namen bekannt, sondern unter dem Namen Katzenkönig (auf Chinesisch natürlich). Am Beginn des zweiten Teils gibt Li Li eine Zusammenfassung des ersten Teils auf Chinesisch, was ich sehr begrüße. Als ich ihn nun spontan bitte, das nach Rousseau wieder zu tun, bin ich unsicher, ob das eine gute Idee war. Ich gehe dann zu Saint-Simon über, von dem doch einige Studenten als frühem utopischen Sozialisten schon gehört hatten. Li Li verkündet, es müsse von vier Studenten gemeinsam eine Zusammenfassung der jeweiligen Sitzung geschrieben und abgegeben werden, und da erhebt sich Protestgemurmel. Überhaupt läuft diese Vorlesung nicht rund, und als um 9:40 Uhr die erlösende Glocke ertönt, sind fraglos alle froh, dass es vorbei ist. Ich nehme mich da nicht aus, denn die Temperatur in dem Hörsaal war allein schon Grund genug, nicht länger als unbedingt erforderlich dort zu bleiben. Für heute ist es zwar vorüber, aber es bleibt ein Fragezeichen über der Zukunft dieser Einführungsvorlesung. Dienstag, 14. September 2010 Um 10:10 Uhr beginnt meine zweite von drei Lehrveranstaltungen: Economic Sociology in einem ganz anderen Gebäude, das ich mit Lillys Hilfe (nicht wegen Altersdemenz, sondern wegen chinesisch-sprachiger Beschilderung des ganzen Campus!) suche und finde. Die Hörer sind Soziologen, die gerade ihr drittes Studienjahr beginnen (in Amerika also „juniors“), und deutlich besser Englisch können als die Erstsemester von gestern. Ich lege den Schwerpunkt auf Entwicklung und Wandel und trage das Law of Evolutionary Potential von Elman R. Service vor, das die Studenten vorher schon als kurzen Text erhalten und vorbereitet hatten. Wir arbeiten mit einigen guten Wortmeldungen zeitweilig im Gesprächsstil, und in der Pause kommt es zu netten kleinen Begegnungen. Als dann um 11:50 Uhr die Schulglocke ertönt scheint es mir, dass alle sich auf die nächste Sitzung freuen. Aber dann kommt um 16:50 Uhr die zweite Zusammenkunft der Einführung in die Soziologie, die gestern wirklich kein Vergnügen war. Es hat offenbar im College eine Krisensitzung gegeben. Ein Hochschullehrer, der als Fach das Studium der ehrwürdigen Texte des Konfuzius und der Philosophie Chinas vertritt, und der eine Art Studentenbetreuer ist (vergleichbar einem dean of students in den U.S.A.) nimmt als Gast teil (der Schulrat?). Li Li ist heute nicht gekommen, aber Lilly steigt voll mit ein als Assistentin und Übersetzerin. Die Kühlung des Hörsaals ist noch immer nicht repariert, und weil dies ein Nachmittag ist, dürfte es um einige Grad heißer sein als gestern am frühen Morgen. Während der Pause schlägt der Konfuzius-Professor einen Umzug in einen anderen Raum vor, aber ich habe mich gerade in Rage geredet und lehne das ab. Heute bringe ich in freier Rede die Typologie der Soziologieschulen je nach dem Umgang mit der Spannung zwischen Wesen und Erscheinung. Danach wird Saint-Simon abgeschlossen und dann gibt es Comte. Ich rede frei, trage mit Power Point das Dreistadiengesetz vor, und Lilly übersetzt abschnittweise. Dazu reichen wir (Michal Jackson) das Mikro hin und her, ich laufe herum, sie steht stationär, außer wenn sie an der Tafel die chinesischen Zeichen für Stadien und Unterstadien anschreibt. Der Konfuzius-Mann ist auch mit von der Partie: Lilly weiß nicht mehr genau, welches bei Comte das Zeichen für Metaphysik ist, und da kommt er sehr bescheiden und höflich an die Tafel und hilft aus. Also, vorn ist am Laptop, an der Leinwand, an der Tafel und im Hin-und-herreichen des Mikros wirklich etwas los, und dazu kommt immer wieder eine Übersetzung auf Chinesisch. In der Pause herrscht angeregte Stimmung. Ich frage Lilly was sie meint. Eigentlich kommt nun Marx dran, aber es läuft gerade so gut mit den Franzosen, sollten wir nicht gleich zu Durkheim übergehen? Lilly schläft vor: Frage die Studenten, ob sie Marx wollen. So kommt es zu der bemerkenswerten Szene, in der ein Deutscher ohne besonders linke Vergangenheit vor 140 junge Chinesen ins Mikrophon ruft: Do you want Marx? Aus dem Hörsaal schallt ein vielstimmiger Chor zurück: Yes, we want Marx! Also rede ich nach vorliegendem englischen Text, den alle über den Beamer mitlesen können, von den Stories aus Trier, Bonn und Berlin über den jungen Marx. Als um 18:30 Uhr die Glocke das Ende verkündet, ist diese Vorlesung im positiven Sinne gelaufen. Trotz der zahlreichen Ventilatoren an der Decke, müssen alle aus dem Hörsaal rasch in die Dusche, der Konfuzius-Professor ist erleichtert, Lilly hat viele Fragen auf Chinesisch zu beantworten, und ich gehe schön langsam die Treppe hinunter. Mittwoch, 15. September 2010 Man hatte mir schon Montag ein Büro gegeben, und seit heute hat es auch noch Internetanschluss. Der Raum ist so groß wie unsere Wohnung (Einheitsarchitektur). Es werde noch jemand das Zimmer mit mir teilen, hieß es, aber bisher habe ich es allein. Zwar stehen zwei Schreibtische darin, aber nur ein Computer. Besonders wichtig ist die sehr gut funktionierende Klimaanlage; das Zimmer ist höchst angenehm gekühlt, wahrscheinlich herunter auf 25 Grad von den 35, die draußen herrschen. Von nun an verbringe ich viel Zeit dort. Meine dritte Lehrveranstaltung, ein Seminar über Georg Simmel, ist für Mittwochs in der Zeit von 19:30 bis 21:00 vorgesehen, doch heute beginnt es aus organisatorischen Gründen noch nicht. Es bleibt also noch etwas Zeit, bis sich eine für jede Woche einheitliche Routine einstellen kann. In einem benachbarten Büro arbeiten Herr Wang (König auf Chinesisch) und Frau Ma (Pferd auf Chinesisch). Frau Ma spricht sehr gut, Herr Wang mäßig Englisch, und so kommen wir ins Gespräch. Beide sind seit etwa einem halben Jahr von der Leitung diese College mit der Entwicklung einer Abteilung für Kulturvergleich betraut worden, und beiden interessieren sich primär für Religionen. Herr Wang möchte ein Seminar für Lehrkräfte vorbereiten und bittet mich um Mitwirkung bei der Erarbeitung eines Konzepts und auch um meine Teilnahme an dem Seminar selbst. Frau Ma hat den westlichen Namen Lucy angenommen und bittet mich, sie so anzureden. Herr Wang hat auch einen westlichen Namen verliehen bekommen: Robert. Aber er findet es richtig, wenn ich ihn einfach als Wang anrede. Wenn ich deren Büro betrete, hört sich das so an: Good morning Wang, good morning Lucy, good morning Horst. Donnerstag, 16. September 2010 Regnerische Tage gibt es auch. Lilly beschafft eine Regionalzeitung. Darin werden neue Bestimmungen zur nationalen Bevölkerungspolitik für die Landbevölkerung bekannt gegeben. Angehörige von anerkannten ethnischen Minderheiten haben in aller Regel das Recht auf zwei Kinder, während die Normalchinesen, die sogenannten Han, nur ein Kind haben dürfen, es sei denn, das einzige Kind stellt sich als behindert heraus. Für diesen traurigen Fall ist dann ein zweites Kind erlaubt. Die Durchsetzung dieser Politik, die es seit rund dreißig Jahren gibt, ist von jeher bei der Landbevölkerung schwierig gewesen. Nun steht heute in der Zeitung, dass eine auf dem Lande lebende Han-Mutter, die eine Tochter hat, und eine Minderheitenmutter, die zwei Töchter hat, eine Prämie von 25.000 Yuan (ca. 2.900 Euro) bekommt, falls sie sich sterilisieren lässt. Zusätzlich zahlt die Regierung für jeden der beiden Ehepartner den Betrag von 2.000 Yuan in die Rentenkasse ein, um die Höhe der Rente im Alter zu verbessern. Lassen sich die Mütter nach der Geburt eines Sohnes sterilisieren, so vermindert sich die Prämie auf 20.000 Yuan. Jeder Mutter gleich in welcher Situation sie sich befindet, wird der Verzicht auf ein zweites Kinde, das ihr eigentlich nach den geltenden Bestimmungen zustehen würde, mit 10.000 Yuan vergütet, wenn sie sich zur Sterilisation entschließt. Freitag, 17. September 2010 – Samstag, 18. September 2010 Der Freitag bring keine besonderen Vorkommnisse, ohnehin sind ja die fünf Wochentage mit Lisas Schulaktivitäten recht rigide festgelegt. Doch der Samstag zeichnet sich dadurch aus, dass Lisa entgegen dem üblichen Wochenverlauf in die Schule muss: Es wird Unterricht vor-geholt oder „eingebracht“, der in der kommenden Woche wegen der Feierlichkeiten zum Herbst-Mondfest ausfallen wird. Da das auch am Sonntag noch geschehen wird, fängt die neue Woche schon mit dem Wecker ganz früh an, und Lisa findet das überhaupt nicht lustig. Auch am Sonntag sind wir dann nach der Schule eingeladen zu dem Amerikaner Jeremy und seiner chinesischen Ehefrau. Ich hatte Jeremy bei dem Treffen der Sprachlehrer kennengelernt. Seine Frau arbeitet hier bei der Fernsehstation der Insel, und es ist verabredet, dass wir uns bei Schulschluss an Lisas Schule treffen und Jeremys Frau uns dort mit ihrem Auto abholt.

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