Neun gelbe leere Post-Its hängen an einer Wand
Kelly Sikkema / Unsplash

Call for Abstracts für den Sammelband: Obdach- und Wohnungslosigkeit in pandemischen Zeiten

Im Rahmen eines Buchprojektes der Technischen Hochschule Nürnberg wird um fachliche Beiträge zum Thema Wohnungslosigkeit während der Pandiemie gebeten. Einsendeschluss ist der 01. Dezember 2021.

Trotz großer Anstrengungen zur Eindämmung des hochansteckenden Virus SARS-CoV-2 (COVID-19) konnte die Ausbreitung einer Pandemie nicht verhindert werden, sodass im Frühjahr 2020 Einschränkungen des öffentlichen Lebens in Form von Ausgangs-, Aufenthalts-, Betreuungs- und Veranstaltungsbeschränkungen in vielen Ländern beschlossen wurden. Diese Strategien der physisch-räumlichen Distanzierung zielten darauf ab, das Infektionsgeschehen auf ein für das deutsche Gesundheitssystem zu bewältigenden Maß zu kontrollieren. Die eigene Wohnung sollte zunächst nur noch für notwendige Einkäufe oder zum Ausüben der Erwerbsarbeit verlassen werden. Diese Schutzfunktion der eigenen Wohnung gewann mit der Pandemie an Relevanz, sodass sich der Lebensmittelpunkt großer Teile der Bevölkerung in den Schutz des eigenen Zuhauses verlagerte. Die Pandemie verdeutlichte somit, dass Wohnraum eine materielle Ressource darstellt, die Menschen unter anderem Schutz und Rückzugsmöglichkeiten bietet und für den Erhaltung der psychischen und physischen Gesundheit unerlässlich ist.

Mit den solidarischen Aufrufen zur Reduktion von persönlichen Kontakten (#wirbleibenzuhause) drängte sich allerdings die Frage auf, wie wohnungs- und obdachlose Menschen, denen kein miet- oder eigentumsrechtlicher Wohnraum zur Verfügung steht, diesen Aufrufen nachkommen sollen. Schon unter vorpandemischen gesellschaftlichen Verhältnissen stellen die Armutslagen Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit größte Herausforderungen an die Betroffenen. Die Bedingungen der Pandemie haben dazu geführt, dass Menschen ohne eigene Wohnung nunmehr in modifizierten sozialen, politischen, physischen und ökonomischen (Risiko-)Umgebungen zurechtkommen müssen. Diese neue Situation ist erstens durch die staatlichen Reaktionen auf die Pandemie in Form von Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen gekennzeichnet. Hierfür sichern Kontrollagenturen verstärkt die geforderte physisch-räumliche Distanzierung (Maßnahmen des Lockdowns und der ‚sozialen' Distanzierung) in der Stadtgesellschaft, sodass sich eine punitive Kultur der Kontrolle ausweitete. Zweitens war die neue Situation durch temporäre Schließungen von wohlfahrtstaatlichen und sozialarbeiterischen Hilfeeinrichtungen charakterisiert, sodass Organisationen der Problembearbeitung ihr Angebot nicht mehr dauerhaft in körperlicher Präsenz aufrechterhalten konnten und neue Konzepte und Angebotsformen (auch in digitaler Form) ausprobieren mussten, um überhaupt Unterstützung in pandemischen Zeiten anbieten zu können.

Die öffentliche Diskussion über Obdach- und Wohnungslosigkeit erlebte in Medien, Politik und Gesellschaft eine Renaissance. In dieser Diskussion wird das soziale Phänomen der Wohnungslosigkeit allerdings oft auf ein homogenes, stigmatisierendes und klischeebelastetes Bild reduziert: Wohnungslose Menschen werden als Männer mittleren Alters porträtiert, die auf der Straße leben, unter Brücken schlafen und in Fußgängerzonen betteln. Tatsächlich vereint der Begriff der Wohnungslosigkeit allerdings eine Vielzahl kritischer Lebenslagen von Menschen verschiedenen Alters, Geschlechts und Lebenssituationen. Diese Heterogenität spiegelt sich in den vielfältigen Lebenslagen, den unterschiedlichen Alltagsgestaltungen und den variierenden Bewältigungsstrategien der betroffenen Menschen wider. Obgleich die Pandemie wie ein ‚Brennglas' soziale Ungleichheiten verschärft und sich drastisch auf die ohnehin schon kritischen Lebenslagen der ärmsten Bevölkerungsgruppen (wie auch obdach- und wohnungslosen Menschen) auswirkt, kann angenommen werden, dass sich die Veränderungen, die die Pandemie mit sich brachte, unterschiedlich von wohnungslosen Menschen interpretiert und gedeutet werden und sie verschiedene Wege des Umgangs mit diesen Veränderungen finden. So konnten obdachlose Menschen, die auf der Straße lebten und/oder in Notunterkünften nächtigten, beispielsweise der Aufforderung, zu Hause zu bleiben, gar nicht nachkommen. Sie setzen sich zudem einem erhöhten Ansteckungsrisiko aus. Da öffentliche Toiletten, Bäder oder öffentlich zugängliche Sanitäreinrichtungen geschlossen wurden, verschärften sich die ohnehin schon bestehenden Schwierigkeiten bei der Einhaltung von Hygienestandards zusätzlich. Wohnungslose Menschen in Notunterkünften und in Wohnheimen oder Pensionen lebten auf engstem Raum zusammen, oft in ungesicherten oder inadäquaten Wohnverhältnissen, hatten wenig bis keine Außenkontakte und mussten befürchten, dass die Abstandsregelungen sich auch bei reduzierter Zimmerbelegung nicht umsetzen ließen. Die Option bei Familie, Freunden oder Bekannten unterzukommen, entfiel für viele Betroffene durch die neuen Kontaktbeschränkungen. Es drohten Eskalationen und Gewalt untereinander. Wie auch anderen armen Menschen fielen wohnungslosen Menschen Möglichkeiten der Einkommenssicherung wie Betteln oder Pfandflaschensammeln weg, wodurch sich die materielle Lage weiter verschlimmerte.

Zahlreiche politische und professionelle Initiativen, Organisationen und Verbände haben während der Pandemie sowohl auf die Situation von wohnungslosen Menschen als auch auf die Situation von Einrichtungen der Sozialen Arbeit aufmerksam gemacht, sodass mit ungewöhnlichen Maßnahmen wie Öffnungen von Hotels für obdachlose Menschen politisch reagiert wurde. Zudem gab es zivilgesellschaftliche Aktivitäten, die neue Formen der nachbarschaftlichen Solidarität und Unterstützung ermöglichten oder eine Transparenz über Hilfeangebote herstellten (z.B. Gabenzäune). Die sozialwissenschaftlichen Forschungen zu Obdach- und Wohnungslosigkeit während der Corona-Pandemie stehen allerdings noch am Anfang. Der Sammelband „Obdach- und Wohnungslosigkeit in pandemischen Zeiten" möchte knapp zwei Jahre nach dem Ausbruch der COVID-19 Pandemie wissenschaftliche Beiträge vereinen, die im weitesten Sinne die Thematik der Wohnungs- und Obdachlosigkeit in pandemischen Zeiten untersuchen, die Situation von wohnungs- und obdachlosen Menschen vor und während der Pandemie analysieren und sich mit den gesellschaftlichen und (wohlfahrts-)staatlichen Reaktionen auf die Pandemie befassen.

Wir freuen uns über theoretische und empirische sowie interdisziplinäre, internationale, ländervergleichende oder qualitativ und quantitativ ausgerichtete Beiträge, die die Situation von obdachlosen und wohnungslosen Menschen während der Corona-Pandemie analysieren. Folgende Fragen und Themenfelder können dabei untersucht werden (weitere Forschungsfragen sind möglich):

  • Inwieweit hat die Pandemie zur Entstehung neuer Wohnungsnotfallsituationen (z.B. durch Zunahme häuslicher Gewalt oder finanzieller Probleme) beigetragen?
  • Wie verändern sich Bewältigungsformen neuer und alter Problemlagen im Kontext von Wohnungs- und Obdachlosigkeit während der Corona-Pandemie?
  • Wie verändern sich die Problemlagen selbst über die verschiedenen Phasen der Pandemie und welche Bedarfe wohnungsloser Menschen resultieren daraus?
  • Wie wirkt sich die Corona-Pandemie auf bestimmte Subgruppen aus, z.B. entkoppelte Jugendliche, Senior*innen ohne Wohnung, wohnungs- und obdachlose Migrant*innen oder Geflüchtete, wohnungs- und obdachlose Menschen mit psychischen und physischen Erkrankungen etc.?
  • Wie verändern sich soziale Netzwerke und soziales, kulturelles und ökonomisches Kapital wohnungsloser Menschen?
  • Wie reagierten verschiedene Wohlfahrtsstaaten auf die Pandemie? Wie wurde das Leben wohnungsloser Menschen durch die Entscheidungen der einzelnen Wohlfahrtsstaaten beeinflusst?
  • Wie bewerten Betroffene sozialarbeiterische Beratung und Unterstützung während der Corona-Pandemie? Wie empfinden die Hilfesuchenden die Qualität der ihnen angebotenen Unterstützung?
  • Welche innovativen Unterstützungsmöglichkeiten für wohnungs- und obdachlose Menschen entstanden und entstehen im Rahmen der Pandemie?
  • Was bedeutet die Pandemie und die pandemiebedingten Veränderungen für Träger der Sozialen Arbeit?
  • Wie erfahren wohnungslose Menschen selbst die gesellschaftlichen Reaktionen und politisch verordneten Maßnahmen? Wie verändert sich das Gesellschaftsbild wohnungsloser Menschen?
  • Wie wurde der Diskurs über Wohnungslosigkeit von der Pandemie beeinflusst? Können Veränderungen im Diskurs festgestellt werden?
  • Welche Konsequenzen und Handlungsempfehlungen ergeben sich aus den Erfahrungen mit der Pandemie für die Zukunft?
  • Wie verändert sich Forschung unter Pandemiebedingungen? Welche Herausforderungen ergeben sich im Feldzugang und im Rahmen der Datenerhebung mit welchen methodischen und methodologischen Konsequenzen?

Bitte senden Sie Ihren Kapitelvorschlag in Form eines Abstracts von maximal 400 Wörtern an Marco Heinrich (marco.heinrich@th-nuernberg.de), Frieda Heinzelmann (frieda.heinzelmann@th-nuernberg.de) und Frank Sowa (frank.sowa@th-nuernberg.de).

Der Einsendeschluss für Ihr Abstract ist der 1. Dezember 2021! Der Sammelband erscheint im transcript Verlag im Jahr 2023. Wir freuen uns sehr über Ihre Einreichungen und sind schon sehr gespannt!

Marco Heinrich, Frieda Heinzelmann und Frank Sowa

Geplanter Zeitplan für den Sammelband:
01.12.2021 Einreichungsfrist Abstracts
15.12.2021 Entscheidung: Annahme von Beiträgen
15.05.2022 Einreichungsfrist Beiträge
01.07.2022 Rückmeldung an Autor*innen
01.09.2022 Einreichung der überarbeiteten Beiträge
01.10.2022 Abgabe des satzfertigen Buchmanuskripts an Verlag
01.02.2023 Veröffentlichung des Werkes