Anthrôpos – Homo und Zôon

von Dr. Jos Schnurer
02.08.2021

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Im anthropologischen Diskurs wird Leben (bios, βíος, vita) als die Form des Existierens von Lebewesen bezeichnet, im Gegensatz zu  den Prozessen des Entstehens und Vergehens, des Wachsens und Entwickelns des Daseins (zôê, ζωή) Die Unterscheidung ist insofern von Bedeutung, als bei der Frage nach der Conditio Humana, der menschlichen Natur das anthropologische Bewusstseins der Menschen als biologische und ontologische Phänomene zu beachten sind – als naturbedingte und menschengemachte Grundlagen des Lebens. In der antiken, aristotelischen Philosophie wird das Streben eines jeden Menschen nach einem guten, gelingenden Leben (eu zên) gleichgesetzt mit glücklicher Fügung und dem nicht relativierbaren Anspruch, dass ein gutes Leben gutes Denken und Handeln bedingt. Das ist eine Anforderung, die intellektuell erworben werden muss; vor allem in der Bildung und Erziehung der Menschen. Es sind die ethischen und moralischen Ansprüche, die die Menschheitsfamilie bestimmen, das Gute im Menschen fördern und das Böse verhindern sollen[1]. Beim philosophischen Blick auf menschliches, tierisches und pflanzliches Leben auf der Erde bedarf es sowohl der erdbewussten  Aufmerksamkeit[2], als auch der evolutionären Aufklärung[3]. Der anthrôpos, der Mensch, ist aufgrund seiner Vernunftbegabung, seiner Fähigkeit, zwischen Gut und Böse, Richtig und Falsch unterscheiden und Allgemeinurteile bilden zu können, ein Lebewesen, das in der scala naturae eine Mittelstellung zwischen Überirdischem (theos, Gott), Animalischem (zôon, Tier ) und Phytonem (Pflanze) einnimmt[4].  „Sapere aude – habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ (Immanuel Kant). Dieses aufgeklärte Bewusstsein schafft für den Menschen die Lebenskraft für ein humanes, menschenwürdiges Dasein

Eu zên

Der Homo sapiens sapiens als bildungs-, aufklärungsfähiges und bedürftiges Lebewesen[5] ist als zôon politicon ein politisch denkendes und handelndes Individuum und Gemeinschaftswesen, und als homo culturalis ein kreativer und schöpferischer Mensch. So bilden Politik und Kultur eine Einheit. Das Streben nach einem guten Leben (euzôia) ist dem Menschen aufgegeben. Dabei irritiert freilich  das „Zwischen“, so als ob es zwischen den Werten Alternativen gäbe. Kultur aber ist politisch, wie Politik kulturell – und im Umkehrschluss Nichtpolitik auch Nichtkultur ist. Bei der Frage allerdings, was ein gutes Leben ist und welche Werte und Einstellungen ein gelingendes, menschenwürdiges Leben prägen, zeigen sich unterschiedliche Auffassungen: Individuelle, kollektive, egoistische, altruistische, utilitaristische, ideelle, materielle, ökonomische, ökologische, soziale, subjektive, objektive, reale, utopische… So ist es angebracht, nach dem Sinn eines guten Lebens zu fragen. Dieses Unterfangen verbindet sich mit der Überzeugung, dass eine „wohlgeordnete“ Gesellschaft sich dadurch auszeichnet, jeden Menschen die Möglichkeit und Chance zu eröffnen, ein gutes Leben zu erreichen. Im anthropologischen, politischen Diskurs ist das die „Herrschaft des Volkes“, also die Demokratie, in der gleichberechtigte politische Rechts- und Ordnungssysteme vorherrschen. Weil aber auch in der politischen Verfasstheit und Praxis undemokratische Entwicklungen existieren, bedarf es der Bildung, Aufklärung und Förderung einer kritischen Auseinandersetzung darüber, wie lokale und globale soziale Gerechtigkeit hergestellt werden kann[6]. Die von den Vereinten Nationen eingesetzte Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ hat in ihrem Abschlussbericht (1995) den Appell verfasst: „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“. Weil Auseinandersetzung mit Kultur in allen ihren vielfältigen Formen und Entwicklungen auch Kultur- und Gesellschaftskritik ist, muss die Frage nach dem guten Leben immer auch verbunden sein mit einer aktuellen Gesellschaftsanalyse und -diagnose. Hier gewinnt erneut Bedeutung, was im gesellschaftskritischen Diskurs gewissermaßen als Tenor gefordert wird: der Perspektivenwechsel, und zwar beim ökonomischen, wie beim anthropologischen Denken und Tun der Menschen: Ein gutes Leben ist nur in einem guten, gerechten, demokratischen, freiheitlichen und menschenwürdigen wirtschaftlichen, sozialen und politischen System möglich[7]

Das Leben ist schön

Es sind die Zustände und Zumutungen des Lebens, die Wünsche, Hoffnungen, Visionen und Illusionen sprießen lassen, dass das Individuum und die Lebensgemeinschaft ein gutes Dasein findet: Euzôia, das gute Leben, zeichnet sich nicht nur dadurch aus, dass der Mensch seine Grund- und Existenzbedürfnisse erfüllen kann, sondern auch Zugang zu sozialen, kulturellen, seelischen und geistigen Gütern hat[8]. In der sich immer interdependenter, entgrenzender und egozentrierter entwickelnden Welt wird den Menschen suggeriert, dass die Durchsetzung von individuellen, lokal- und globalgesellschaftlichen Partikularinteressen existentiell notwendig ist, weil nur so die Chancen der Globalisierung genutzt werden könnten. Der Begriff der „Vision“ wird in staatlichen und zivilgesellschaftlichen (Zukunfts-)Programmen sehr strapaziert – jedoch überwiegend mit dem scheinbar unverzichtbaren Diktum, dass Gegenwartsbewältigung und Zukunftsdenken nur ökonomisch als kapitalistische und neoliberale Wachstumsprogrammatik denkbar sei. Die individuellen und gesellschaftlichen Folgen dieser Ideologie zeigen sich längst in der Entwicklung, dass, lokal und global die Reichen immer reicher und die Habenichtse immer ärmer werden, dass die seit Jahrzehnten deutlich ausgesprochenen Mahnungen und Prognosen, dass die Grenzen des Wachstums erreicht seien (1972), die Menschheit an einem Wendepunkt ihrer Geschichte angelangt sei (1992), und vor der Herausforderung stehe, „umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“, wie dies die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ 1995 eindringlich zum Ausdruck brachte. Der Soziologe Dieter Korczak legt einen Sammelband vor, in dem danach gefragt wird: „Wie wollen wir leben?“. Es sind fachbezogene und interdisziplinäre, wissenschaftliche Antworten, die den Blick auf Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges (Gutes, Reales, Visionäres, Utopisches) lenken. Der Diskurs darüber, wie wir als Menschheit gegenwärtig leben können und zukünftig existieren wollen, ist in vollem Gange. Das ist gut, werden dabei doch den allzu bequemen und vielfach suggerierten Auffassungen „anything goes“ und „business as usual“ intellektuelle und humane Antworten entgegen gesetzt. Dabei zeichnet sich ab, dass der anthrôpos es ist, der gutes Leben ermöglichen kann. Notwendig ist dazu die Kompetenz, sich zu ändern, kritisch anzupassen und  Perspektivenwechsel hin zu einer conditio humana vollziehen zu können[9].

Lebenskunst

Damit die Dinge zusammen kommen – das ist die Erwartungshaltung, die als intellektuelle Kompetenz verstanden werden kann. Mit dem lateinischen Begriff intellegere wird zum Ausdruck gebracht, dass ein Mensch, der in der Lage ist, etwas einzusehen, zu erkennen, zu verstehen und auszuwählen, über Intellekt verfügt und etwa „das Wesen des Geistigen in der Vorstellung und nicht im Willen“ erkennt, als Intellektueller bezeichnet werden kann[10]. Über Intellekt, Verstand und Vernunft als spezifisch menschliches Denkvermögen haben Philosophen immer wieder reflektiert, und sie tun es bis heute. Wir befinden uns also auf dem schwankenden Seil von Denkakten, die sich für den Intellektuellen als Herausforderung, Wagnis und Abenteuer darstellen. Weil sich über Denken und Wahrheitsfindung trefflich streiten lässt, kommt es darauf an, die intellektuelle Fähigkeit als kontinuierlichen wie auch wandelbaren Prozess zu erkennen und als  unabhängiges Denken anzustreben[11]. So stellen sich Denkversuche und -anlässe nicht selten entweder als Selbstverständlichkeiten oder als Zumutungen dar. Der Baden-Württembergische Philosoph und Kulturwissenschaftler Hans-Willi Weis greift mit einer Tour d´Horizon in die intellektuellen Zeitgeistdiskurse ein, indem er Verbindungen herstellt zu einem Yogi, einem Denker also, der sich durch transzendentale Meditation bemüht, zum eigenen Bewusstsein zu gelangen. Bei dieser Suche nach sich selbst (in sich und im anderen) liegen Stoppstraßen, Stolpersteine und Fallgruben auf dem Weg, die es gilt zu erkennen und zu umgehen. Eine dieser Hindernisse sieht Weis im digitalen Zeitalter, in dem mit den allseits verfügbaren Werkzeugen der Ablenkung und permanenten Verfügbarkeit der Mensch aus sich selbst heraus tritt - und neben sich steht, so als ob er nicht er selbst wäre. In 95 Reflexionen und realistischen, tatsächlich existierenden Szenendarstellungen vermittelt er keine Rezepte und Handlungsanweisungen, sondern Denkanstöße, die vielleicht – und nur aus eigener Kraft – einen eigenen Perspektivenwechsel bewirken können. Es sind kurze Denkstücke, die gewissermaßen entlang unseres alltäglichen Denkens und Tuns verlaufen, absichtlich wie unabsichtlich gedacht und getan werden, und manchmal beim Nachdenken über sich selbst und dem, wie wir geworden sind, was wir sind, als Philosophie daher kommen; wie etwa die Vorstellung von Gott und seiner oder keiner Existenz in uns, das Erstaunen in uns, intellektuell zu sein und zu denken, sich daran zu messen, was Herr Keuner (Bertolt Brecht) damit meint, wenn er sagt: „Weise am Weisen ist die Haltung“, beim Umgang mit der „Phrasendreschmaschine“. Es ist weiter die Auseinandersetzung mit dem „Vorbild“ des Yogi und dem Dilemma, die Wirklichkeit als Wahrheit oder Lüge wahr zu nehmen )Heinz von Foerster); was sich als Gleichnis zeigt: „Wenn du dich bewegst, musst du wissen, wohin. Wenn du dich nicht bewegst, musst du wissen, warum“, den Sprung (oder den Schleichschritt) hin zu zenbuddhistischen Gedankengängen, die Auseinandersetzung mit der „Zweckdienerei als Mutter aller Missverständnisse“, das Durchschauen, Nutzen und Verwerfen der Zauberformel „Gelassenheit“, die defätistisch oder auch komödiantisch daher kommenden Auseinandersetzungen mit den selbst ernannten oder anerkannten Intellektuellen[12].

Fazit

Es sind die selbstverständlichen, und doch nicht einfach abzuhakenden Fragen nach dem Sinn des Lebens[13], die  besonders in Zeiten von Fake News, von Populismen und Denkverboten relevant sind. Es sind krisenhafte Situationen, in denen Querdenker und Negisten präsent sind und ihre eigenen Wahrheiten verkünden. Sie fordern auf zum qualitativen, ehrlichen und faktischen Denken. Es sind die Herausforderungen, die frühzeitig und lebenslang das Leben eines jeden Individuums und Kollektivs mit der Frage „Wer bin ich?“ bestimmen solltten!


[1] Michael Schermer, Der moralische Fortschritt. Wie die Wissenschaft uns zu besseren Menschen macht, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/25201.php

[2] Wolfgang Welsch, Homo mundanus. Jenseits der anthropischen Denkform der Moderne, 2017, www.socialnet.de/rezensionen/14323.php

[3] Michael Tomasello, Mensch werden. Eine Theorie der Ontogenese, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/27385.php

[4] Otfried Höffe, Hrsg., Aristoteles-Lexikon, 2005, 640 ‚S.

[5] Angela Janssen, Verletzbare Subjekte. Grundlagentheoretische Überlegungen zur conditio humana, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/25043.php 

[6] David Großmann / Fabian Scheidler, Hrsg., Der Kampf um soziale Gerechtigkeit, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/26334.php

[7] Max Fuchs, Das gute Leben in einer wohlgeordneten Gesellsachaft. Bildung zwischen Kultur und Politik, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/26614.php

[8] Abraham H. Maslow, Jeder Mensch ist ein Mystiker. Impulse für die seelische Ganzwerdung, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/16223.php

[9] Dieter Korczak, Hrsg., Visionen statt Illusionen. Wie wollen wir leben?, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/18045.php

[10] Martin Gessmann, Hrsg., Philosophisches Wörterbuch, 2008, www.socialnet.de/rezensionen/8464.php

[11] Karl Heinz Bohrer, Selbstdenker und Systemdenker. Über agonales Denken, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/14323.php

[12] Hans Will Weis, Der Intellektuelle als Yogi. Für eine neue Kunst der Aufmerksamkeit im digitalen Zeitalter, 2015, www.socialnet.de/rezensionen/19886.php

[13] Terry Eagleton,  Der Sinn des Lebens, 2008,www.socialnet.de/rezensionen/7111.php