Inklusiv forschen für Teilhabe und Teilgabe: Das AKTIF-Projekt
Zur Förderung der inklusiven Teilhabeforschung startete vor zwei Jahren an der TU Dortmund das AKTIF Projekt. Es soll die beruflichen Chancen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern mit Behinderung in der Teilhabe und Inklusionsforschung sowie ihre Vernetzung mit den Disability Studies stärken.
Das Projekt setzt die TU Dortmund unter der Gesamtkoordination von Vertretungsprofessorin Dr. Monika Schröttle, Fakultät Rehabilitationswissenschaften, gemeinsam mit drei Partnerhochschulen und Instituten in Bochum, Köln und Nürnberg um. Sozial.de erfuhr im Gespräch mit der Gesundheitswissenschaftlerin und Personalreferentin, Dr. Christiane Barbara Pierl, was Inklusion in der Forschung benötigt und anregen kann.
Frau Dr. Pierl, Sie arbeiten seit Sommer 2016 in dem inklusiven Forschungsteam des AKTIF-Projektes. Was muss man sich darunter vorstellen?
Pierl: Ich arbeite mit Kolleginnen und Kollegen ohne und mit unterschiedlichsten Arten und Schweregraden von Beeinträchtigungen zusammen: Hör-, Sehbeeinträchtigungen, Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer... Bei der inklusiven Zusammenarbeit sind unterschiedliche Bedarfe zu berücksichtigen und zu adressieren, zum Beispiel Schriftdolmetschung, große Schriftarten, Braille-Übersetzung in Besprechungen oder rollstuhlgerechte Unterbringung, aber auch besondere Bedarfe von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit Allergien und Unverträglichkeiten. Dies mag zeitlich und organisatorisch zunächst einen zusätzlichen Aufwand darstellen, dieser wird jedoch durch die Synergien auf Grund der sehr unterstützenden und guten Zusammenarbeit mehr als ausgeglichen.
Was ist das AKTIF-Projekt genau?
Pierl: AKTIF steht für Akademikerinnen und Akademiker mit Behinderungen und/oder chronischen Erkrankungen in die Teilhabe- und Inklusions-Forschung. Es ist ein inklusives, multizentrisches, transdisziplinäres Forschungsprojekt. Ziel von AKTIF ist, die Chancen für schwerbehinderte Akademikerinnen und Akademiker im wissenschaftlichen Bereich zu fördern: unter anderem durch Weiterqualifizierung, Einwerbung von und Mitarbeit in inklusiven Drittmittelprojekten und Etablierung im Wissenschaftsbetrieb an der Host-Hochschule. Zudem bieten AKTIF-Mitarbeiterinnen und -mitarbeiter ein spezifisches Mentoring, Beratung und wissenschaftliche Begleitevaluation für inklusive Forschungsprojekte und die Umsetzung der UN Behindertenrechtskonvention (UN BRK) in Deutschland an.
Woran arbeiten Sie gemeinsam?
Pierl: Inklusions- und Teilhabeforschung ist ein relativ junges Forschungsgebiet. Auf dem Weg in eine eigenständige Disziplin sind Begrifflichkeiten zu definieren und ein für die spezifischen Forschungsfragestellungen und besonderen Herausforderungen geeignetes Methodenrepertoire zu entwickeln. So zum Beispiel zur Befragung von Menschen mit kognitiven Einschränkungen. Daran arbeiten wir als multidisziplinäres Team von Sozial-, Politik-, Rechts-, Rehabilitations-, Gesundheits-, und Psychotherapiewissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern sowie Kolleginnen und Kollegen aus der Psychologie und Pädagogik transdisziplinär zusammen Auch bei der Beantragung von inklusiven Forschungsprojekten und im Aufbau eines inklusiven Forschungsnetzwerkes arbeiten wir gemeinsam und bringen unsere unterschiedlichen Expertisen ein. Charakteristisch für inklusive Forschungsteams ist ein Anteil von Menschen mit Behinderungen und/oder chronischen Erkrankungen mit einem Grad der Behinderung von mindestens 50 Prozent. Als Expertinnen und Experten in der Inklusions- und Teilhabeforschung bieten AKTIF Wissenschaftlerinnen und -wissenschaftler Mentoring und wissenschaftliche Begleitevaluation für inklusive Forschungs-, Arbeits- und Vernetzungsprojekte an. Auch wissenschaftliche Begleitung von Gesetzgebungsverfahren im Zusammenhang mit der Umsetzung der UN BRK in Deutschland gehört dazu.
Welche Herausforderungen gilt es zu meistern?
Pierl: Arbeiten in inklusiven Forschungsteams mit den vielfältigen unterschiedlichen Bedarfen erfordert einiges an zusätzlicher Organisation und technischen Hilfsmitteln. Organisatorische Herausforderungen ergeben sich daraus, dass barrierearme Arbeitsmittel, Lehr- und Lernmaterialien als Sonderbedarf verwaltungstechnisch nicht Standard sind und "zu Wege gebracht" werden müssen. Ein Beispiel dafür wären barrierearme Visitenkarten mit großer Schrift und Braille-Aufklebern für Menschen mit Sehbeeinträchtigungen. Besondere technische Vorbereitungen sind vor jedem Meeting oder auch sozialem Event zu treffen. Das können sein Induktionsschleifen, Schriftdolmetscher, Gebärdendolmetscher, große Schrift oder Braille-Übersetzung. Für eine gelingende Kommunikation und ein gutes soziales Miteinander ist von jedem Team-Mitglied eine große Sensitivität und Aufmerksamkeit für seine Mit-Arbeitenden und eine große Disziplin gefordert, beispielsweise wenn es darum geht, in Meetings langsam und deutlich zu sprechen, damit Dolmetscher folgen können. Gerade diese Herausforderungen sind es aber, die zu einem überdurchschnittlich guten Miteinander und einem sehr angenehmen, wertschätzenden Arbeitsklima beitragen.
Wie würden Sie das Besondere der Zusammenarbeit beschreiben?
Pierl: Kreativität und Innovation sind vorprogrammiert, da die Kolleginnen und Kollegen mit Beeinträchtigungen lebenslang ihren individuellen, kreativen und innovativen Umgang mit den gesellschaftlichen Umständen und Anforderungen entwickeln mussten und dadurch sehr viel Flexibilität und Weite in ihrem Denken und Handeln besitzen. Gibt es den Raum und die Offenheit, dass dies mit-geteilt und offen angenommen werden kann, entstehen förderliche Rahmenbedingen für die Findung und Umsetzung von wichtigen, neuen Forschungsthemen.
Und wie erleben Sie die Kolleginnen und Kollegen mit und ohne Behinderung im Team?
Pierl: Aus Kolleginnen- oder Kollegensicht ist eine Unterscheidung mit oder ohne Behinderung unerheblich. "Das Ganze ist mehr als die Summe als die Summe seiner Teile!" - Ich erlebe ein gut funktionierendes Team mit flachen Strukturen und einem zukunftsweisenden Führungsstil, der innovativ, adaptiv, integrativ, partizipativ und vernetzend wirkt, mit einer hervorragenden Führungskultur, wie er vom Standpunkt einer Personalreferentin wünschenswert ist - hier wird er gelebt! Es gibt Raum für eine individuelle wie auch gemeinsame Umsetzung und Gestaltung anstehender Aufgaben.
Ist dies eine neue Erfahrung für Sie?
Völlig neu, ja. In meinem langjährigen Berufsleben in wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Bereichen habe ich zuvor kein Team erlebt, in dem so wertschätzend und kollegial-unterstützend miteinander umgegangen wird und eine derart angenehme und positiv-motivierendes Atmosphäre herrscht. Inklusive Forschungsprojekte haben besondere Eigenarten und für das Handling von Barrieren sind in einem gewissen Rahmen mehr finanzielle und zeitliche Ressourcen aufzuwenden, doch sind der Innovationscharakter der Themen und Outputs, die Effektivität sowie die Qualität der Arbeit in diesen Forschungszusammenhängen sehr fruchtbar und nutzbringend für Wissenschaft, Politik und Gesellschaft.
Insgesamt ist die Bilanz stark positiv zu bewerten. Ich kann inklusives Arbeiten jedem in Wissenschaft und Wirtschaft bestens empfehlen, der Innovation und Kreativität für eine erfolgreiche Arbeit braucht und nachhaltig seine Wettbewerbsfähigkeit am Markt sichern möchte. Ich möchte dazu ermutigen, sich mit den überaus großen Chancen des Diversity Managements vertraut zu machen und mit innovativen Teamstrukturen und Führungsstilen mit dem Ziel eines "Best Place to Work" an einer "Gesunden Gesellschaft" mitzuwirken. Es lohnt sich!
Dankeschön. Die Fragen stellte Ines Nowack, Chefredaktion Sozial.de
Zur Person: Dr. Christiane Barbara Pierl stammt aus dem Bremer Raum. Seit etwa 15 Jahren lebt sie auch im Ruhrgebiet. Beruflich hat sie als Epidemiologin und Gesundheitswissenschaftlerin in verschiedenen wissenschaftlichen Einrichtungen im Öffentlichen Dienst und in der Wirtschaft gearbeitet. Sie ist Dozentin für Evidenz-basierte Gesundheitsversorgung und Health Technology Assessment, Versorgungsmanagement sowie Interprofessionelle Gesundheitsversorgung. Als Personalreferentin und Systemische Coach interessiert sie sich für Positiv-Beispiele einer guten gesundheitsförderlichen Unternehmens- und Führungskultur.