Frauen zwischen Selbstoptimierung und Stressbewältigung zerrieben? 2. Konferenz zur Frauengesundheit suchte Antworten
Berufstätige Mutter, verständnisvolle Partnerin, hauptverantwortlich in der Hausarbeit, engagiert in der Pflege von Angehörigen… – Frausein ist heute mit zahlreichen Erwartungen verknüpft. Zeitgleich steigt die Zahl psychischer Störungen unter Frauen, sie sind unter ihnen zweithäufigster Grund für eine Krankschreibung. Manche sprechen von einem Megatrend. Stimmt das? Über 250 Frauengesundheits-Expertinnen aus Wissenschaft und Praxis diskutierten in Köln. Veranstalter waren das BMG und die BZgA.
Inhalt- Frauentypische Lebensumbrüche: Stolperfallen für psychische Gesundheit?
- Negativspirale: Hohe Belastung und geringe Anerkennung
- Psychische Störungen bei Frauen - ein Megatrend?
- Resilienzförderung in der Praxis - eine Diskussion
- Wissenschaft trifft Praxis - Praxis trifft Wissenschaft
Frauentypische Lebensumbrüche: Stolperfallen für psychische Gesundheit?
Die psychische Gesundheitslage von Frauen erregt deutliche Besorgnis. Die Leiterin der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), Dr. Heidrun Thaiss betonte: „Die enormen gesellschaftlichen Erwartungen gehen an vielen Frauen nicht spurlos vorbei. So berichten zehn Prozent der Frauen und sechs Prozent der Männer, dass bei ihnen in den letzten 12 Monaten eine Depression oder depressive Verstimmung bestand, die von einem Arzt oder Psychotherapeuten diagnostiziert wurde.“
Eine der zentralen Fragen der Kölner Konferenz war deshalb auch: Warum sind Frauen deutlich stärker betroffen als Männer? Bundeszentrale für gesundheitliche Aufkläfung (BZgA) und Bundesministerium für Gesundheit (BMG) wollten gemeinsam mit Wissenschaftlerinnen und Praktikerinnen den Einfluss von spezifischen Lebensherausforderungen hinterfragen, vor allem die Lebens-Umbrüche, die für die Frauen mit großen Anforderungen an die psychische Stabilität einhergehen. Frauentypische Herausforderungen gibt es in der Pubertät, in der Schwangerschaft und in den Wechseljahren. Frauenspezifisch sind auch verschiedene Schwierigkeiten, Partnerschaft, Familie & Beruf miteinander zu verbinden oder bestimmte Herausforderungen als Alleinerziehende. Spezifische Fragen werfen auch die Übernahme der Pflege von Angehörigen auf, eigene Pflegebedürftigkeit, Veränderungen des Körpers oder der etwaige Verlust des Lebenspartners.
Zu klären sei, so Thaiss, was stärkt psychische Widerstandkraft von Frauen, diese vielfältigen Herausforderungen über die gesamte Lebensspanne hinweg zu meistern und dabei psychisch gesund zu bleiben? Und wo liegen Potenziale der Unterstützung?
Relevant ist, betonte die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Prof. Dr. Anke Rohde, Gynäkologische Psychosomatik, Universitätsklinikum Bonn, dass solche Lebensereignisse oder -situationen für die zukünftige psychische Stabilität oft nicht in ihrer Bedeutung wahrgenommen werden und dass die Behandlungsangebote unzureichend sind.“ Präventive Konzepte gebe es praktisch gar nicht. In der geschlechtsspezifischen Betrachtung von psychischen Störungen spielen aber solche Life Events neben hormonellen, biologischen, soziobiografischen und anderen Faktoren eine wichtige Rolle.
Zu einem bedeutsamen Life-Event für Frauen gehört die Geburt des eigenen Kindes, sagte die Expertin. Das Risiko, in diesem Zusammenhang an einer Depression zu erkranken, wird oft unterschätzt. Es liegt, soProf. Rohde, bei etwa 13,5 Prozent. Das waren 2014 fast 100.000 Frauen pro Jahr in Deutschland. Etwa die Hälfte der postnatalen Depressionen sei behandlungsbedürftig. Auch in der Schwangerschaft bekommen 70.000 Frauen jährlich eine Depression (etwa zehn Prozent aller Gebärenden des Jahrgangs 2014). Die Medizinerin machte ein multifaktorielles Geschehen verantwortlich, in dem unter anderem Veranlagung, zusätzliche Belastungen, hohe eigene Erwartungen und fehlende soziale Unterstützung für eine Abwärtsspirale verantwortlich sind. Diese Abwärtsspirale könne zu einer schweren Hypothek für die gesamte Familie werden. Man weiß heute aus aktuellen Studien von Auswirkungen auf die Mutter-Kind-Beziehung vor allem in den ersten Wochen und Monaten, die auch die spätere Entwicklung des Kindes beeinflussen.
Belastende Lebensereignisse im Leben von Frauen sind auch Schwangerschaftsabbrüche. Sie können noch Jahre nach dem Ereignis psychische Probleme nach sich ziehen. Frauen, die Schwangerschaften wegen der so genannten medizinischen Indikation abbrechen, haben zwar mittlerweile im Rahmen ihres Entscheidungsprozesses den gesetzlichen Anspruch auf psychosoziale Begleitung, aber selten eine Nachbetreuung, weiß Rohde. Auch ungewollte Kinderlosigkeit, traumatisch erlebte Entbindung oder auch Krebserkrankung können mit Gefährdungen der psychischen Gesundheit einhergehen, berichtete sie. In ihren Wechseljahren haben ein Drittel aller Frauen dieser Gruppe unter den schweren Beschwerden des so genannten klimakterischen Syndroms zu leiden. Das sind geschätzt zwei Millionen Frauen in Deutschland.
Negativspirale: Hohe Belastung und geringe Anerkennung
Staatssekretärin beim Bundesminister für Gesundheit, Ingrid Fischbach, warf einen Blick auf die Mehrfachbelastungen von Frauen und Müttern: „Die vielschichtigen Herausforderungen des Familienalltags in Deutschland werden nach wie vor zum größten Teil von Frauen bewältigt. Dies gilt sowohl bei der alltäglichen Sorge für die Kinder als auch bei der Betreuung und Pflege älterer oder kranker Angehöriger. Gerade berufstätige Frauen und Mütter sind dadurch einer Mehrfachbelastung ausgesetzt, die auch Stress und Druck erzeugen kann. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf muss auf allen Ebenen weiter unterstützt werden. Gleichzeitig geht es darum, psychischen Belastungen entgegenzuwirken, deshalb haben wir mit dem Präventionsgesetz die Früherkennung und Vorbeugung von psychischen Erkrankungen deutlich gestärkt."
Es ist jedoch nicht per se die hohe Belastung von Frauen, die in psychische Überlastung führt, sagen aktuelle wissenschaftliche Daten. Die Sozialwissenschaftlerin Dr. Stefanie Sperlich, Medizinische Hochschule Hannover, stellte sie in einem der vier Fishbowls des Tages vor. Stress verursache demnach vor allem die Kombination von zu hoher Verausgabung und zu geringer Anerkennung. Das scheint auch für Mütter im Tätigkeitsfeld Haushalt und Familie so zu gelten, also da, wo sie auch heute - berufstätig oder nicht - noch die Hauptlast tragen.
Die Wissenschaftlerin hatte das aus der bezahlten Arbeitswelt bekannte Konzept der Effort-Reward-Imbalance von Sigrist für die Entwicklung eines Messinstruments für Gratifikationskrisen in diesem häuslichen Tätigkeitsbereich adaptiert. Erste Stichprobenergebnisse weisen darauf hin, so Sperlich, dass Mütter, die sich besonders belastet durch mangelnde Anerkennung fühlen, auch ein schlechteres psychisches Befinden haben. Anerkennungsprobleme traten dabei vor allem bei verheirateten Frauen auf, die besonders im Haushalt und in der Familienarbeit belastet waren.
Grundsätzlich zeige aber die Mehrheit aller Studien zur doppelten und Mehrfachbelastung, dass das Ausfüllen von mehreren Rollen eher gesundheitsfördernd ist. Das sei jedoch nach Datenlage an Voraussetzungen geknüpft. Zum Beispiel daran, dass die Arbeit Spaß macht und der eigenen persönlichen Entwicklung dient. Wichtig sei auch, dass die Frau Unterstützung am Arbeitsplatz erhält. Wenn die Erwerbstätigkeit eine bestimmte Stundenzahl überschreitet oder man Arbeit nur als Broterwerb tun muss, oder gar eine Dreifachbelastung durch Pflege von Angehörigen erlebt, kippt das eher, sagte die Forscherin. Dann beginne eine Negativspirale der Überlastung, die das Problem hat, das gesamte Familiensystem zu betreffen und sich gegenseitig zu beeinflussen.
„Erst, wenn gar nichts mehr geht, stellen Frauen einen Antrag auf eine Mütter- oder Mutter-Kind-Kurmaßnahme“, so Anne Schilling, Deutsches Müttergenesungswerk. Bei der medizinischen Eingangsuntersuchung in den Einrichtungen vor Ort werden heute bei 84 Prozent von jährlich 50.000 aufgenommenen Müttern psychische Störungen, wie höchste Werte der Erschöpfung, Angstzustände oder Schlafstörungen festgestellt. „Das ist in den vergangenen zehn Jahren eine Steigerung um fast 37 Prozent“, betonte die Geschäftsführerin der Trägerin des Deutschen Müttergenesungswerkes, Elly Heuss-Knapp-Stiftung.
Die Frauen, die in einer Vorsorge- oder Reha-Einrichtung neue Kraft schöpfen, sind fast immer zwischen 25 und 45 Jahre alt, leben überwiegend in Partnerschaft/Ehe und haben ein bis zwei Kinder. Die Hälfte von ihnen arbeitet in Teilzeit. Elf Prozent der Mütter pflegen zusätzlich einen Angehörigen, bei den älteren in den Müttereinrichtungen sind es bereits 20 Prozent. Deutlich mehr als die Hälfte der Frauen hat einen Migrationshintergrund.
Junge Mütter, so Schillings Erfahrung, finden sich heute schnell in der traditionellen Mutterrolle wieder, angereichert durch eigene und gesellschaftliche Erwartungen und wollen das alles noch toppen: Sie wollen alles perfekt machen. Zugleich sagt etwa ein Viertel der Frauen von sich, keine Anerkennung zu bekommen. Nicht für sich zu sorgen, sei ein großes Thema, so Schilling. Das habe viel mit dem gesamtgesellschaftlichen Mutterbild zu tun. Sie schätzte ein: „Viele Mütter können sich erst in der unmittelbaren Begegnung mit anderen ihre eigene Überforderung eingestehen, weil es anderen auch so geht. Sie merken erst dann, dass das Problem eine gesellschaftliche Dimension hat“.
Psychische Störungen bei Frauen - ein Megatrend?
Ohne zahlenmäßige Belegung der Häufigkeit psychischer Erkrankungen, gibt es keine Finanzierung und keine Aufmerksamkeit für die Anliegen der Frauen. Der seriöse wissenschaftliche Beweis ist aber sehr schwierig.
Die Sozialmedizinerin und Forscherin, Prof. Dr. Éva Rásky vom Institut für Sozialmedizin und Epidemiologie an der Medizinischen Universität Graz, Österreich, ist sich des Dilemmas bewusst. Sie zeigte in Köln Schwierigkeiten der Methodenvielfalt und Grenzen wissenschaftlicher Studien auf. Einflüsse schreibt sie auch der veränderten gesellschaftlichen Wahrnehmung von psychischen Störungen zu: Sie werden zunehmend in der Bevölkerung enttabuisiert, die Gesellschaft richte sich auf eine alternde Gesellschaft ein, in der psychische Störungen gehäuft auftreten, auch im Zusammenhang mit einer Demenz.
Große Bedeutung in dem untersuchten Geschehen so genannter mentaler und substanzbezogener Störungen misst sie der Depression bei, dort könne man ehesten von der Entwicklung zu einem Megatrend hin sprechen, so Rásky. Etwa vier von zehn Menschen, die dem gesamten Störungskreis zuzurechnen sind, leiden unter Depression.
Sie ist die häufigste psychische Erkrankung in Deutschland. Frauen erkranken dabei zweimal so häufig wie Männer. Mit diesem Phänomen müssen wir uns ernsthaft auseinandersetzen, so die Wissenschaftlerin. Untersuchungen des Robert-Koch-Instituts und der Techniker Krankenkasse haben gezeigt, dass Krankschreibungen aufgrund von psychischen Störungen gestiegen sind, vor allem bei Frauen. Auch Rentenzugänge aufgrund verminderter Erwerbsfähigkeit sind besonders bei Frauen gestiegen. Wissenschaftlich fragen müsse man sich: Welche Rolle spielen Veränderungen in sozialen oder Rentensystemen und im Arbeitsleben? Fragen müsse man auch, welche Zusammenhänge zwischen wachsender Zahl von Depressionen und Gewalterfahrungen und familiärer Gewalt und traumatischen Erfahrungen in der Familie bestehen?
Belegt sind heute soziografische Faktoren der Depression: Während arbeitslose Männer das höchste Depressionsrisiko tragen, sind Frauen mit geringer sozialer Unterstützung besonders gefährdet. Sie haben ein fast dreifach höheres Risiko in Depression zu geraten als Frauen mit einer hohen sozialen Unterstützung.
Nicht jede psychische Störung müsse dabei behandelt werden, beurteilte Rásky. Aber sie müsse erkannt und der individuelle Behandlungsbedarf geklärt werden. Wichtig seien für die Frauen eine professionelle Hilfe und die Berücksichtigung ihrer Angebotswünsche. Schaffe man mehr niedrigschwellige Angebote, brauche man ihrer Meinung nach die Spitze der Behandlung gar nicht mehr so ausbauen. Unterstützend plädierte die Expertin dafür, die Sicherheit vor Gewalt in Einrichtungen zu gewährleisten und die Gesundheitskompetenz von Frauen zu verbessern. Zu wünschen wäre mit Blick auf das Präventionsgesetz, dass die politisch angestrebte nationale Strategie zur Prävention und Gesundheitsförderung nun Fahrt aufnimmt.
Resilienzförderung in der Praxis - eine Diskussion
Ulrike Hauffe von der Bremischen Zentralstelle für die Verwirklichung der Gleichberechtigung der Frau appellierte in einer Diskussion mit drei Praktikerinnen zur Umsetzung des Konzeptes der Resilienzförderung in Lebensphasen:
„Resilienz bedeutet nicht, sich im Durchhalten zu üben und darf nicht als Begriff missbraucht werden, damit Stressoren im Umfeld, am Arbeitsplatz oder in Partnerschaften beibehalten werden. Das Präventionsgesetz bietet insbesondere für niedrigschwellige Gesundheitsangebote den Rahmen, schwierige Lebensphasen besser zu bewältigen.“
Spontanen Applaus des Publikums bekam sie für ihre kritische Frage: „Organisieren wir als Gesellschaft oder als Institutionen, die Rahmenbedingungen für Gesundheit schaffen, die Stolperfallen für psychische Gesundheit nicht selbst auch mit? So zum Beispiel gegenwärtig in der Geburtshilfe?"
Dr. Annegret Gutzmann, niedergelassene Frauenärztin und Psychotherapeutin aus Köln, spach sich stärker für eine Gynäkologie aus, die sich in regionalen Hilfesystemen vernetzt, um Frauen frühzeitig zu unterstützen. Prof. Dr. Anke Rohde, Gynäkologische Psychosomatik, Universitätsklinikum Bonn, mahnte eine höhere Wertschätzung beziehungsorientierter Medizin an.
Einig waren sich die Expertinnen darüber, dass sich Resilienzkonzepte an der Lebenswirklichkeit der Frauen messen lassen müssen und nicht mit einem neuen Anspruch zur Selbstoptimierung verknüpft werden dürfen.
Maria Zemp, Referentin für Traumaarbeit, Euskirchen, sagte: „Ein Resilienzbegriff, der es ernstmeint, muss auch dazu taugen, Menschen zu helfen, aus Prozessen der Traumatisierung gestärkt hervorzugehen. Manchmal zwingen Lebensumstände wie Gewalt oder Flucht in die Knie. Schwachsein zu dürfen, ist die Voraussetzung, um wieder stark werden zu können.“
Sie mahnte noch eine andere Dimension an: „Gesundheit hat immer etwas mit Gerechtigkeit zu tun. Resilienzkonzepte sind dann zum Scheitern verurteilt, wenn sie nur für eine ganz bestimmte Schicht der Bevölkerung gedacht sind“.
Wissenschaft trifft Praxis - Praxis trifft Wissenschaft
Vier Fishbowls nutzten Expertinnen aus Praxis und Wissenschaft sich zu Teilfragen zu informieren, mitunter kontrovers zu diskutieren und Lösungsansätze zu finden. Es ging dabei um psychische Gesundheit von Müttern, frühzeitige Erkennung von psychischen Erkrankungen, psychische Gesundheit und Körper sowie Migration und psychische Gesundheit.
Sie erörterten Fragen wie: Welche betrieblichen Bedingungen müssen geschaffen werden, damit Frauen nach der Geburt ihrer Kinder beruflich wieder Fuß fassen können und dabei gesund bleiben? Was können wir gegen Körperoptimierung tun? Wie können Gesundheitsförderung und Prävention in mittelständischen und kleinen Betrieben unterstützt werden? Wie gewinnt man eine größere Öffentlichkeit für das Problem der gesundheitlichen Benachteiligung der Frau? Oder auch: Wie können wir geflüchteten Frauen hier helfen, sich „richtig zu fühlen“?
Quelle: 2. Frauengesundheitskonferenz des Bundesministeriums für Gesundheit und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und Presseinformation vom 19. April 2016, Autorin: Ines Nowack, Redaktion Sozial.de