Drogentod wirksamer verhindern: Sozialarbeiter in der medizinischen Laienhilfe?
Sozial.de im Gespräch mit Olaf Ostermann, Gesamtleiter der Condrobs Kontaktläden limit und off+, Condrobs, München
Schon länger wird über die Frage beraten, ob der Wirkstoff Naloxon stärker in der Notfalltherapie bei Opiat-/Opioid-Überdosierungen auch an geschulte medizinische Laien abgegeben werden sollte. Vor dem Ausschuss für Gesundheit und Pflege des Bayerischen Landtags bekräftigten Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Praxis jetzt ihr positives Veto. Hintergrund sind alarmierende Entwicklungen im Freistaat Bayern. Seit zehn Jahren steigen sowohl in München als auch im gesamten Bundesland die Drogentodesfälle. Das bevölkerungsreiche Bayern führte mit 314 Drogentoten 2015 wiederholt die traurige Bundestatistik an. Das geht aus dem Drogen- und Suchtbericht 2016 der Drogenbeauftragten der Bundesregierung, Marlene Mortler, hervor. Auch in ganz Deutschland gibt es danach wieder mehr Drogentote. Im Jahr 2015 wurden 1.226 drogenbedingte Todesfälle polizeilich registriert. Dies entspricht einem Anstieg von 18,8 Prozent gegenüber dem Vorjahr (1.032).
Einer der größten überkonfessionellen Träger für soziale Hilfsangebote in ganz Bayern, Condrobs, bietet seit April 2016 regelmäßige Trainings für Konsumentinnen und Konsumenten von Opiaten an. Sie werden darin geschult, wie sie eine Opiatüberdosis erkennen, welche Schritte dann in der Ersten Hilfe wichtig sind, wie sie Naloxon verabreichen, aber auch welche Vor- und Nachteile eine Naloxongabe hat. Im Anschluss erhalten sie dann das Medikament Naloxon in einem Notfall-Kit. Der Verein kooperiert dafür mit einem Ausbilder für Rettungssanitäter, einer Ärztin und wird finanziell unterstützt vom Referat für Gesundheit und Umwelt der Landeshauptstadt München und des Bezirkes von Oberbayern. Er hat damit das bisher einzige Take-Home-Naloxon (THN)-Programm in Bayern gestartet. Der Verein sieht enormen Nachholbedarf in der Prävention, um den Tod durch Überdosis im Freistaat Bayern in Zukunft besser verhindern zu können.
Auch bundesweit fehlen seiner Meinung nach grundsätzliche Signale. Und das, obwohl es Erfahrungen bereits in über 20 Ländern mit Naloxon-Take-Home-Programmen gibt. Die USA beispielsweise hat inzwischen 188 lokale Naloxon-Take-Home-Programme für Opiatkonsumentinnen und -konsumenten, und in immer mehr Städten und Gemeinden werden auch andere potenzielle Ersthelfer wie beispielsweise Polizisten geschult und mit Naloxon ausgestattet. Schottland hat seit 2010 das weltweit erste nationale Naloxon-Programm.
Auch die Weltgesundheitsorganisation WHO spricht sich in einer Empfehlung für den Einsatz von Naloxon zur Behandlung einer Opiat/Opioid-Überdosierung aus. Die EU-Drogenbeobachtungsstelle (European Monitoring Centre for Drugs and Drugs Addiction, EMCDDA) weist in ihrem erst kürzlich erschienenen Bericht „Preventing opioid overdose deaths with take-home naloxone“ darauf hin, dass dringendes Handeln erforderlich ist, um die Verfügbarkeit von Naloxon-Programmen zu verbessern. Und auch Dorgenbeauftragte Marlene Mortler hofft in einem Statement an die Deutsche Gesellschaft für Suchtmedizin (DGS), dass Naloxon-Take-Home-Programme eine stärkere Berücksichtigung finden und dies vor Ort möglich wird.
Naloxon wird derzeit in der Regel im Rettungsdienst und in den sogenannten Konsumräumen eingesetzt. Deutschlandweit gibt es bisher nur fünf THN-Programme: in Berlin, Frankfurt, Köln sowie in Nordrhein-Westfalen und in München.
Wir haben bei Olaf Ostermann, Gesamtleitung der Condrobs Kontaktläden limit und off+, nach Gründen gefragt.
Redaktion Sozial.de: Expertinnen und Experten sind sich in Sachen Naloxoneinsatz so einig wie selten. In der Expertenanhörung sprach der Vorstandsvorsitzende des Arbeitskreises Medizinischer Ethik-Kommissionen in Deutschland, Prof. Dr. Joerg Hasford, vor wenigen Tagen in Bayern davon, dass die Todesrate laut Studienlage um 30 Prozent reduziert werden könnte. Was also steht der Ausbreitung von THN-Programmen im Wege? Sind es rechtliche Bedenken?
Olaf Ostermann: Unserer Auffassung nach ist die Vergabe an medizinische Laien nach bestehendem Recht (bundesweit!) nicht ausgeschlossen. Die Verabreichung von Naloxon im Notfall durch Dritte, zum Beispiel durch Mitkonsumentinnen und MitkonsumentenFreunde, Angehörige oder Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, ist durch Paragraph 34 Strafgesetzbuch „Rechtfertigender Notstand“ abgedeckt.
Die Berufung auf diesen Paragraphen lässt jedoch manche Ärzte und Träger zögern, solche Projekte umzusetzen, da es ihnen zu unsicher ist.
Allerdings ist bisher deutschlandweit kein Fall bekannt, dass jemand, der Naloxon eingesetzt hat, strafrechtlich verfolgt wurde. Deshalb gibt es letztlich auch keine Rechtssicherheit, ob im Falle der Überdosis tatsächlich von einem „rechtfertigenden Notstand“ auszugehen ist, da es kein Urteil darüber gibt. Wir gehen aber davon aus, dass der rechtfertigende Notstand im Fall der Überdosis greift. Auch alle Experten in der Landtagsanhörung waren dieser Meinung.
Ein weiteres Problem ist der Ausschluss von vielen potenziellen Ersthelferinnen und -helfern bei der Verschreibung. Naloxon kann bisher nur an Opiatkonsumentinnen und –konsumenten abgegeben werden.
Im Moment darf zum Beispiel kein Streetworker Naloxon mit sich führen, um es bei einem möglichen Drogennotfall auf der Straße einzusetzen. Er kann nur schauen, ob die Klientin oder der Klient zufällig ein Naloxon-Kit bei sich hat und dann dieses anwenden. Das ist aber momentan noch sehr unwahrscheinlich. Wünschenswert wäre es, dass Streetworkerinnen und Streetworker selbst Naloxon in ihren Taschen haben. Genauso sollten Kontaktläden die Möglichkeit bekommen, Naloxon in der Einrichtung zu haben, um es im Notfall anzuwenden.
Redaktion Sozial.de: Die Rechtslage ist also kompliziert. Wie wirkt sich das auf Ihre Trainings aus?
Olaf Ostermann: Der Personalaufwand bei den Trainings ist im Moment sehr hoch. Wir brauchen immer die Anwesenheit einer Ärztin oder eines Arztes, der die Rezepte ausstellen kann. Dann brauchen wir die Ausbilderin oder den Ausbilder für Rettungssanitäter und eine Sozialpädagogin oder einen Sozialpädagogen, die gemeinsam die Trainings durchführen. Außerdem brauchen wir zusätzlich jemanden, der mit den Rezepten das Naloxon aus der Apotheke holt und die Notfall-Kits damit bestückt. Wir dürfen Naloxon also nicht vorrätig haben. Außerdem kann Naloxon nur an aktuell Opiat- Konsumierende abgegeben werden. Ex-User, die sich noch in der Szene bewegen und an den Trainings teilnehmen, bleibt Naloxon leider verwehrt.
Redaktion Sozial.de: Was könnte zur Klärung beitragen?
Olaf Ostermann: Die Gabe in einem Notfall könnte durch ein „Guter-Samariter-Gesetz“ klar straffrei gestellt werden.
Am besten wäre es, wenn Naloxon im Rahmen der medizinischen Laienhilfe aus der Verschreibungspflicht genommen werden würde. In Italien und neuerdings auch in Kanada ist das beispielsweise der Fall. Auch andere potenzielle Ersthelferinnen und -helfer wie zum Beispiel nicht Opiat konsumierende Angehörige, Freunde, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter oder Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen oder auch Polizistinnen und Polizisten können es dann selbst bei sich haben.
Redaktion Sozial.de: Gibt es Bedenken von Fachleuten?
Olaf Ostermann: Viele Fachleute aus der Suchthilfe und der Medizin haben keine oder nur sehr wenige Bedenken. Die Gefahr von Nebenwirkungen, Suchtpotenzial und Toleranzsteigerung bewerten sie als gering ein. Alle Fachleute, die zur Anhörung im Gesundheitsausschuss des Bayerischen Landtags geladen waren, sehen die Gabe von Naloxon im Falle einer Opiatüberdosierung als alternativlos an. Sie haben sich für die Implementierung solcher Programme ausgesprochen.
Bedenken gibt es bei der nasalen Gabe, die im Moment mit Hilfe eines nasalen Applikators durchgeführt wird. Hier gibt es Meinungen, dass es nicht ganz ausreichend sei und ein Naloxon-Nasenspray (wie es in Frankreich und den USA zugelassen ist) zu bevorzugen wäre. Im Moment ist dies in Deutschland aber nicht verfügbar. Da aber die nasale Gabe die am einfachsten anzuwendende und genauso wirksam wie die intramuskuläre Gabe ist, sollte hier noch eine Zulassung für die nasale Gabe erfolgen.
Hingewiesen wird jedoch durch Expertinnen und Experten auf die kürzere Halbwertszeit von Naloxon. Es sei deshalb überaus wichtig, die Klientinnen und Klienten darüber aufzuklären, damit eine erneute Überdosierung ausgeschlossen werden kann.
Redaktion Sozial.de: Welchen Eindruck haben Sie nach der Ausschusssitzung: Wie wird es in Sachen Naloxon und THN-Programme in Bayern weitergehen?
Olaf Ostermann: Nach der sehr positiven Ausschusssitzung und der einheitlichen Meinung der Experten, die sich alle für die Einführung von Naloxon-Take-Home-Programmen ausgesprochen haben, erhoffen wir uns für Bayern zumindest ein weitreichendes Modellprojekt.
Dankeschön für das Gespräch. Das Interview führte Ines Nowack, Chefredakeurin Sozial.de