Kuh auf Wiese
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Das Gras auf unserer Seite

„Du bist ewig unzufrieden“, sagt Dörte als ich ihr aus den aktuellen Stellenanzeigen vorlese. „Ich dachte, alles wird gut, nur die Geschäftsleitung muss erst noch wechseln?“

„Ja, das kann Jahre dauern, bis sich da was ändert, und dann weiß ich noch lange nicht, ob es besser wird oder wieder nur anders“. Ich bin unruhig und das Gras auf unserer Seite schmeckt mir nicht mehr. Es hat einen ätzenden Beigeschmack von überdimensionierten Verwaltungsabläufen, und gestern kam noch ein weiteres Formular dazu, das wir zukünftig ausfüllen sollen. Ein kleiner Träger wäre doch besser, denke ich, und ich möchte wenigstens einmal kosten, vom Gras auf der anderen Seite.

In Gedanken gehe ich meine „Fälle“ durch. Ich finde, die Familien sind super. Am Anfang sieht es oft sehr kompliziert aus, und dann kommt etwas in Bewegung. Wenn ich mir die Verläufe so anschaue, kann ich echt zufrieden sein.

Momo hat in den Sommerferien schwimmen gelernt. Nachdem die Eltern da den Leistungsdruck rausnehmen konnten und Momo einfach nur Spaß im Wasser haben durfte, ging es auf einmal ganz schnell. Stolz zeigt er mir sein Seepferdchen, und regelmäßiges Taschengeld bekommt er nun auch. Das fördert seine Lust auf den Mathematikunterricht, sehr zur Freude der Eltern. Frau Albac kämpft sich durch. Da liegt noch eine gute Strecke vor uns. Es gibt Probleme mit dem Ex-Mann, der auf sein Sorgerecht pocht, ohne es wirklich wahrzunehmen. Frau Albac klagt, dass sie ihm ständig hinterhertelefoniert, weil manche Dokumente nun mal von beiden Sorgeberechtigten unterschrieben werden müssen. Den Hortantrag für Sami will er gar nicht unterschreiben. Er meint, eine gute Mutter soll wenigstens am Nachmittag zuhause sein. Dass sie einen Berufsorientierungskurs machen möchte, passt ihm gar nicht. Den Unterhalt zahlt er auch nicht, er meint, sie hätte sich ja nicht trennen müssen. Ich habe mit Frau Albac über eine Beistandschaft gesprochen. „Dann macht er richtig Stress“, sagt sie. „Wenn der ein offizielles Schreiben bekommt, tritt er mir die Tür ein“. Und dann erzählt sie mir davon, was sie erlebt hat mit ihm, und ich verstehe, warum sie Angst hat. Vielleicht sollten wir uns noch an eine Frauenberatungsstelle wenden.

Von Familie Naziri werde ich mich bald verabschieden. Ihre Geschichte hat mich ganz besonders berührt. Sie sind aus dem Land, das sie lieben, geflüchtet, waren fast zwei Jahre in einem Wohnheim untergebracht, und nun haben sie eine eigene Wohnung. Ich habe die SPFH übernommen, als das meiste schon erledigt war. Meine Vorgängerin, deren Träger nicht im neuen Wohnbezirk der Familie arbeitet, hat viele Arzttermine mit den Kindern begleitet und die ganzen Job-Center-Sachen geregelt und – eine Wohnung gefunden - für fünf Personen. Ich habe nur noch den Schulwechsel begleitet und mich mit der Familie im Kiez umgeschaut. Wo ist der nächste Spielplatz? Gibt es ein Freizeitzentrum? Welche Angebote hat die Bibliothek? Und da wurden wir fündig. Die Älteste hat sich gleich für den Zeichenkurs interessiert, und ich bin froh, dass sie eine Insel hat, ein paar Stunden Ruhe und Zeit nur für sich. Sie spricht schon gut Deutsch und hat viel Übersetzungsarbeit gemacht. Das ist schon verrückt, da weiß ich, wie Parentifizierung funktioniert und langfristig Schaden anrichten kann, und dann mache ich doch selber da mit. In meiner Not war ich oft froh, wenn Meena übersetzte. Das Jugendamt hatte zwar die Kostenübernahme für Sprachmittler bei wichtigen Terminen übernommen aber manchmal musste halt schnell etwas abgesprochen oder gefragt werden. Mit dem vereidigten Dolmetscher mussten vorab die Termine vereinbart werden und das erforderte viel Koordinationsleistung. Nun haben wir einen Integrationsbegleiter gefunden und ich hoffe, dass die Eltern sich zukünftig an ihn wenden. Er kann übersetzen und auch Termine begleiten. Und bald werden die Eltern auch ihren Deutsch-Aufbaukurs machen. Und ich werde mich verabschieden.                      
Auch von Ella habe ich mich verabschiedet. Es ging ihr immer schlechter, und ihr Arm sah aus wie das Bein eines Zebras. Nun ist sie in der Klinik, und danach soll eine familienorientierte Psychotherapie eingeleitet werden.

Ich hätte Kapazitäten für zwei neue Fälle - oder zum Schnuppern am Gras auf der anderen Seite.

Ihre Katja Änderlich