Deutschlands einzige integrative Brauerei: In Bigge brauen Sauerländer mit und ohne Behinderung Biere

Bigge-Olsberg/Münster (lwl). Um ihn herum zischt und dampft es. Heute wird das naturtrübe Kellerbier abgefüllt. Ein paar Stunden hat Ralf Beckmann unter der riesigen schwarzen Plastikschürze schon auf die vor ihm vorbeiklimpernden Bierflaschen geschaut. Er sitzt in seinem Rollstuhl und hat ein Auge darauf, ob das "Josefs"-Kopfetikett gerade über dem Verschlussbügel sitzt. Kontrolliert, ob die Flaschen richtig befüllt sind. Die Qualität muss stimmen, das Bier geht an eine große Lebensmittelkette in Hessen. Ein wichtiger Großabnehmer für Deutschlands einzige integrative Brauerei, die im sauerländischen Bigge-Olsberg beheimatet ist. Am Arbeitsplatz des 40-Jährigen ist es so warm wie im tropischen Urwald. Über 60 Prozent Luftfeuchtigkeit, bestätigt Brauereileiter Stefan Menge. "Ich hab's lieber warm als kalt", sagt Beckmann. Gut 10.000 Hektoliter Bier und alkoholfreie Getränke werden jährlich unter seinen Augen in dem Integrationsunternehmen, das vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) unterstützt wird, in Flaschen gefüllt. Bis zu 600 Kisten mit Getränken können die zwölf Kollegen der Brauerei, davon acht Menschen mit Behinderungen, derzeit pro Tag herstellen. Beckmann kontrolliert nicht nur die frisch etikettierten Flaschen der vier Sorten Josefs-Bier, sondern auch Josy-Flaschen mit Schorlen, Cola, Limonade, Tafelwasser und einem Sportlergetränk. Sitzt das passende Etikett nicht an der richtigen Stelle, langt Ralf Beckmann zu, holt die Flasche vom Band, richtet das Schildchen. Oder zieht sie rechtzeitig vor der Packstation aus dem Verkehr. "Von Anfang an bin ich an dieser Stelle", erzählt er später und lächelt. Das Brauerei-Projekt erstaunt immer noch Menschen und Medien. Für Ralf Beckmann ist es ein normaler Job. Er arbeitet 39,5 Stunden in der Woche, wohnt bei seinen Eltern, pendelt die 20 Kilometer mit seinem Auto vom Wintersportort Bödefeld zur Brauerei. Um den Arbeitsplatz hat er sich 1999 beworben. Beckmann ist eigentlich gelernter Besenmacher und Stuhlflechter. Das hat der querschnittsgelähmte Bödefelder nach der Schulzeit im Josefsheim in Bigge gelernt. Doch die handgearbeiteten Besen kamen aus der Mode. Ebenso wie die geflochtenen Stühle. "Ich war hier der letzte Stuhlflechter." Er wollte zum Brauer umschulen. Aber da war der Rollstuhl, der ihm seit Kindestagen vertraut ist, sagt er ganz leise, ein unüberwindbares Hindernis. Und so wurde aus dem Mitarbeiter der ersten Stunde die Endkontrolle in Person. Ralf Beckmann hat das Dutzend an Arbeitsjahren zwischen Abfüllung und Lagertanks fast voll. Sogar den ersten Spatenstich für die Brauerei hat er damals machen dürfen. Der Tariflohn hat ihn gereizt, sagt er. Die Brauerei ist ein Tochterunternehmen der Josefs-Gesellschaft, des größten katholischen Trägers von Krankenhäusern, Altenheimen und Einrichtungen für Menschen mit Behinderung in Deutschland. Gär- und Lagerkeller, Flaschenwaschmaschine und Abfüllstraße - alle Arbeitsplätze sind behindertengerecht und barrierefrei gebaut worden.

Hintergrund

Zwischen den deutschen Großbrauern hat die Josefs-Brauerei ihre Nische mit ausreichend Ab- und Umsatz gefunden. Warstein ist 15 Kilometer entfernt. Zu Veltins in Meschede sind es 30 Kilometer und nach Krombach gut 50 Kilometer. Aber Konkurrenz ist das nicht, sagt Brauereileiter Stefan Menge: "Wenn die einmal husten, haben die soviel rausgetan wie wir im ganzen Jahr." Wobei der eigene Umsatz 2011 um gut zehn Prozent gestiegen ist - gegen den Branchentrend. Die Gründe zählt der Sauerländer auf: "Wir haben unsere Marken neu ausgerichtet, unsere Produktpalette gestrafft und den Vertrieb an eine externe Agentur ausgelagert und damit das Wachstum beschleunigt." Auch die Josefs-Brauerei achtet auf die Wirtschaftlichkeit und will schwarze Zahlen schreiben. Sie will aber darüber hinaus eine Rendite anderer Art erzielen. Denn Beckmanns Job könnte auch eine Maschine machen. Aber dann hätte nicht nur er keine sozialversicherungspflichtige Arbeit mehr. Ute Boeken an der Abfüllung stände dann auch ohne Job da. "Sie ist gehörlos, kann aber von den Lippen lesen", sagt Beckmann. Oder Slava Hoffmann, der am Ausleuchter die Flaschen vor dem Füllen kontrolliert. Nur zwei der zwölf Mitarbeiter wären in der Brauerei nötig, wenn sie vollautomatisch laufen würde. "Aber das ist nicht unser Hintergrund", stellt Stefan Menge heraus, der seit 2009 die Brauerei führt. "Wir wollen zukünftig noch mehr Menschen mit Behinderung beschäftigen." Denn mit der Arbeit gehen Selbstvertrauen und eine höhere gesellschaftliche Akzeptanz einher. "Das eigene Geld verdienen", das ist auch Ralf Beckmann wichtig. Das kennt die Josefs-Gesellschaft, die seit fast 110 Jahren nach passender Arbeit für Menschen mit Behinderung sucht und sie dafür ausbildet. Gegründet wurde die Gesellschaft 1904 vom aus Ahlen stammenden Priester Heinrich Sommer, der Beckmann jetzt auf den modern designten "Josefs"-Bierflaschen Stunde um Stunde anschaut. "trinkgutes.de" ist hinten auf Beckmanns grauem Firmen-Sweatshirt zu lesen. Die Nachfrage nach "Josefs" wächst. Die Folge: Nicht nur die Zahl der Gär- und Lagertanks ist gestiegen. Die Technik wird modernisiert, der Ausstoß erhöht sich mächtig. Und 2012 werden bis zu sechs weitere Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderungen entstehen können. Der Erfolg des Unternehmens bedeutet für Ralf Beckmann ganz konkret, dass er künftig nach zwei Stunden Endkontrolle am Band abgelöst wird und eine andere Arbeit in der Brauerei auf ihn wartet. "Das entspannt die Augen", sagt der Brillenträger. In der Josefs-Brauerei werden branchenübliche Löhne gezahlt - und damit gibt es für jeden Mitarbeiter auch Deputat. 2,5 Liter pro Arbeitstag stehen jedem laut Tarifvertrag auch zu, bestätigt Stefan Menge. "Wir haben uns auf zwei Kisten pro Woche geeinigt." Ralf Beckmann füllt sich seine Frei-Kisten meist mit den alkoholfreien Josy-Getränken. Hat er das Bier nach Feierabend satt? Er lächelt nur. "Bier nehme ich kaum", gesteht er und verrät aber seinen Bier-Favoriten. "Wenn, dann würde ich das Märzen nehmen." In 113 Integrationsunternehmen in Westfalen-Lippe arbeiten Menschen mit und ohne Behinderung zusammen. Die Firmen sorgen für Inklusion im Arbeitsleben, müssen sich auf dem freien Markt beweisen - und sind im Schnitt um die Hälfte kostengünstiger als die Plätze in den Werkstätten für Menschen mit Behinderungen. 85 dieser Firmen, die der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) bei ihrer Arbeit unterstützt, präsentieren sich am 22. März bei der LWL-Messe der Integrationsunternehmen in der Halle Münsterland in Münster. Unter dem Motto "Unternehmen tun Gutes! - inklusiv arbeiten" zeigen die Aussteller, was sie leisten. Die Integrationsbetriebe arbeiten in Industrie, Handwerk und Handel - mit einer erstaunlichen Vielfalt an Produkten und Dienstleistungen. Supermärkte, Gartenbaubetriebe, Hotels, Cafés, Radstationen und ein Golfplatz werden von Belegschaften betrieben, in denen Menschen mit Behinderungen arbeiten. Und sogar eine Brauerei. Workshops, Vorträge und Gesprächsrunden ergänzen die Leistungsschau. Dort können sich auch interessierte Industrie-Unternehmen, Handwerksbetriebe und Gründer informieren, wie sie Arbeitsplätze für Menschen mit einem Handicap schaffen können und wer ihnen dabei hilft. Die Messe steht allen Interessierten von 9 bis 18 Uhr offen, der Eintritt ist frei.

Der LWL im Überblick

Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) arbeitet als Kommunalverband mit 13.000 Beschäftigten für die 8,3 Millionen Menschen in der Region. Der LWL betreibt 35 Förderschulen, 21 Krankenhäuser, 17 Museen und ist einer der größten deutschen Hilfezahler für Menschen mit Behinderung. Er erfüllt damit Aufgaben im sozialen Bereich, in der Behinderten- und Jugendhilfe, in der Psychiatrie und in der Kultur, die sinnvollerweise westfalenweit wahrgenommen werden. Die neun kreisfreien Städte und 18 Kreise in Westfalen-Lippe sind die Mitglieder des LWL. Sie tragen und finanzieren den Landschaftsverband, den ein Parlament mit 101 Mitgliedern aus den Kommunen kontrolliert.


Quelle: Pressemitteilung des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) vom 23.01.2012
http://www.lwl.org