Unabhängige Beauftragte zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs legt Abschlussbericht vor

Dr. Christine Bergmann fordert Hilfen für alle Betroffenen bei Therapie und Beratung

Berlin - Im März vergangenen Jahres wurde Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin a.D., zur Unabhängigen Beauftragten zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs ernannt. In ihrem am 24.05.2011 veröffentlichten Abschlussbericht stellt Dr. Bergmann die Ergebnisse der einjährigen  Aufarbeitung vor und benennt ihre Empfehlungen für die Bundesregierung und den Runden Tisch „Sexueller Kindesmissbrauch“ für immaterielle und materielle Hilfen für Betroffene.

15.000 Anrufe und Briefe sind in der Anlaufstelle eingegangen. Empfehlungen resultieren aus der Auswertung der Anrufe und Briefe sowie aus Ergebnissen von Befragungen, Expertisen und Studien.

Neben der wissenschaftlichen Auswertung der eingegangenen Anrufe und Briefe sind in die Aufarbeitung auch Ergebnisse aus Studien und Befragungen eingeflossen, die die Unabhängige Beauftragte initiiert hat. Darunter eine Studie des Deutschen Jugendinstituts e.V. (DJI) zu sexueller Gewalt in  Institutionen, eine Online-Befragung unter Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten sowie eine Auswertung von Expertisen von Beratungsstellen. Es wurden außerdem zahlreiche Gespräche mit Betroffenen und Betroffeneninitiativen sowie mit Expertinnen und Experten aus dem In- und Ausland geführt. Die Ergebnisse aus der einjährigen Aufarbeitung bildeten die Grundlage für die Empfehlungen.

„Hilfemodell Rehabilitation“ für Betroffene in Institutionen und Familien

„Es gehört zu meinem Auftrag, auch Betroffene aus Familien bei meinen Empfehlungen zu berücksichtigen“, so Dr. Bergmann auf der heutigen  Pressekonferenz, „egal ob Missbrauch in der Familie oder in Institutionen stattgefunden hat, viele Betroffene leiden auch Jahre und Jahrzehnte nach dem Erlebten noch an den Folgen des Missbrauchs und brauchen Hilfe zur Minderung der Folgeschäden, hier ist die gesamte Gesellschaft in der Pflicht.“ Dr. Bergmann fordert deshalb für verjährte Fälle ein Hilfemodell, das alle von sexuellem Missbrauch Betroffenen mit Leistungen bei Therapie und Beratung unterstützt - auch bei Therapien, die nicht kassenzugelassen sind, aber von Betroffenen als sehr hilfreich erfahren werden. Die Rehabilitationsleistungen für in Institutionen Betroffene solle die jeweils verantwortliche Einrichtung bzw. Institution übernehmen, die Kosten für in der Familie Betroffene der Bund. Die verantwortlichen Einrichtungen zahlen in diesem Hilfemodell für jeweils die Fälle, die bei ihnen stattgefunden haben. Die Antragsprüfung soll über eine unabhängige Clearingstelle erfolgen.

Ausbau der Therapie- und Beratungsangebote

Die Unabhängige Beauftragte fordert auf Missbrauch spezialisierte therapeutische Ambulanzen, die eine zeitnahe und passgenaue Versorgung von Betroffenen gewährleisten. Gefordert werden außerdem die Erweiterung der Stundenkontingente für Therapien, mehr Aus- und Fortbildung zur Thematik für Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten und die Ärzteschaft, eine Bestands- und Bedarfsanalyse der bestehenden Beratungsstruktur, die Schließung von Versorgungslücken, der Ausbau von Beratungsstellen und ein rechtlicher Anspruch Betroffener auf Fachberatung.

Entschädigungen gemäß gerichtlichem Schmerzensgeld für in Institutionen Betroffene durch die Verantwortungsträger

Genugtuung und Anerkennung für bereits verjährte Fälle sollen in der Zuständigkeit der jeweiligen Institution liegen, in der der Missbrauch stattgefunden hat unter Einhaltung verbindlicher Standards, u.a. finanzielle Entschädigung angelehnt an das zum Tatzeitpunkt geltende Schmerzensgeld, Wiedergutmachung für erlittene wirtschaftliche Nachteile (z.B. rückwirkende Übernahme von Therapiekosten), Prüfung der Anträge durch ein Gremium mit einem von der Institution unabhängigen Vorsitz, Verpflichtung zur Aufarbeitung.

Reform des Opferentschädigungsgesetzes (OEG) – insbesondere für in Familien Betroffene

Noch nicht verjährte Ansprüche sollen Betroffene auf dem bestehenden Rechtsweg geltend machen, jedoch mit Verbesserungen beim Opferschutz. Auch beim geltenden Opferentschädigungsgesetz (OEG) sieht die Unabhängige Beauftragte dringenden Reformbedarf, wie die Öffnung des Zugangs der  Betroffenen zum OEG vor 1976 (alte Bundesländer) und 1990 (neue Bundesländer). Die derzeitige Härteklausel (Zugang zum OEG vor 1976 bzw. 1990 bisher nur bei einem Grad der Schwerbehinderung von mindestens 50 Prozent, Bedürftigkeit und Wohnsitz in Deutschland) soll entfallen. Empfohlen wird auch eine verfahrensvorgelagerte Rechtsberatung. Eine Öffnung des OEG käme vor allem von familiärem Missbrauch Betroffenen zugute, auch bei bereits verjährten Fällen.

Aufhebung von Verjährungsfristen, weitere Empfehlungen

Die Unabhängige Beauftragte fordert eine Verlängerung der zivilrechtlichen Verjährungsfrist auf 30 Jahre frühestens ab dem 21. Lebensjahr bzw. ab Beendigung der häuslichen Gemeinschaft mit dem Täter bzw. der Täterin (und nicht wie im StORMG vorgesehen zum Tatzeitpunkt). Bei den strafrechtlichen Verjährungsfristen müsse durch einen verlängerten Ruhenszeitraum mehr Zeit für eine Anzeigeerstattung eingeräumt werden (Beginn nicht wie bisher mit dem 18. Lebensjahr, sondern frühestens mit dem 21. Lebensjahr bzw. mit Beendigung der häuslichen Gemeinschaft mit dem Täter bzw. der Täterin). Die Unabhängige Beauftragte  fordert neben der Einführung von Mindeststandards für Institutionen u.a. die Vorlage eines erweiterten Führungszeugnisses auch für Ehrenamtliche und Informations- und Aufklärungskampagnen. Besonderen Handlungsbedarf sieht sie bei der Berücksichtigung der DDR-Heimkinder bei Hilfemodellen und einer Aufarbeitung der Thematik.

Zukunft der Unabhängigen Beauftragten und der telefonischen Anlaufstelle

Dr. Bergmann wird noch bis Ende Oktober 2011 als Unabhängige Beauftragte tätig sein und die Diskussion bzw. Umsetzung ihrer Empfehlungen am Runden Tisch „Sexueller Kindesmissbrauch“ begleiten. Bis dahin wird auch die telefonische Anlaufstelle fortgeführt. Der Runde Tisch muss bis zu diesem Zeitpunkt über ein Nachfolgeangebot entscheiden, damit den Betroffenen nahtlos ein Angebot zur Verfügung gestellt werden kann. Vorgeschlagen wird eine unabhängige Stelle, die die Umsetzung von Maßnahmen des Runden  Tischs „Sexueller Missbrauch“ begleitet und mit einem zentralen Hilfeportal verbunden ist. „Mit den Empfehlungen ist die Aufarbeitung noch nicht abgeschlossen, dies kann nur ein erster Schritt sein“, so Dr. Bergmann, „ich appelliere eindringlich an alle gesellschaftlichen und politischen Akteure, den Prozess systematisch und konsequent fortzusetzen und konkrete Handlungen folgen zu lassen.“

Quelle: Pressemitteilung der Unabhängigen Beauftragten zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs vom 24.05.2011
www.beauftragte-missbrauch.de