Psychisch gestört oder ‚nur’ verhaltensauffällig? - Die Kooperation von Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie in einem schwierigen Dunkelfeld

von Hilde von Balluseck
20.01.2011 | Kinder-/Jugendhilfe | Nachrichten

Tagungsbericht

Kinder- und Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie beziehen sich auf die gleichen Problemlagen und haben die gleiche Zielgruppe. Eine steigende Zahl von Kindern und Jugendlichen benötigt Leistungen aus beiden Systemen. Diese funktionieren aber nach unterschiedlichen Verwaltungs- und Finanzierungssystematiken und die Kooperation ist oft nicht ausreichend. Oft kommt eine Jugendhilfeeinrichtung mit Jugendlichen nicht klar, die dann an die Psychiatrie überwiesen werden. Von dort kommen sie nach einiger Zeit wieder in die Jugendhilfe zurück, ohne dass eine Anschlussmaßnahme vorhanden oder erörtert worden wäre. Von daher ist die Jugendhilfe, aber auch die Kinder- und Jugendpsychiatrie oft ein Verschiebebahnhof. Sehr bedeutsam ist in diesem Zusammenhang die fehlende Evaluation von Indikationsstellung und Angemessenheit der Hilfen. Sie führt zu Fehlentscheidungen, die nicht nur kostenintensiv sind, sondern für Kinder, Jugendliche und Familien zusätzliches Leid bedeuten.  Diese Themen wurden auf der Tagung mit dem o.a. Titel in Referaten, Diskussionen und Arbeitsgruppen besprochen. Sie fand am 13./14. Januar 2011 statt und wurde veranstaltet von der Arbeitsgruppe Jugendhilfe im Deutschen Institut für Urbanistik Berlin, in Kooperation mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Ulm.

Das Ausmaß des Problems

Die Kooperation zwischen beiden Systemen ist umso dringlicher, als enorme Steigerungsraten der Klientel in Psychiatrie und Jugendhilfe zu verzeichnen sind.  20 % aller Kinder und Jugendlichen gelten als verhaltensauffällig. Die Kinder- und Jugendpsychiatrie zählt heute doppelt so viele PatientInnen wie in den 90er Jahren. Der Abbau von Betten und Personal wirkt sich hier äußerst negativ aus. Auch in der Jugendhilfe steigen die „Fallzahlen“, wie sich an den Kosten für die Hilfen zur Erziehung (§ 27 SGB VIII) ablesen lässt. Der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg in Berlin – so der Leiter des dortigen Jugendamts, Thomas Harkenthal - gab in 2010 allein für Hilfen zur Erziehung 30 Millionen € aus, in ganz Berlin betrug die Summe 410 Millionen. Die Steigerungsrate in Berlin beträgt 8-10 % jährlich. In München – so die Leiterin des dortigen Jugendamts, Dr. Maria Kurz-Adam - stiegen die Ausgaben für erzieherische Hilfen von 2007 bis 2010 von 158 auf 205 Millionen €. Die steigenden Kosten sind sowohl auf die höhere Zahl von Anspruchsberechtigten wie auf höhere Kosten pro Fall zurückzuführen. Fasst man die Vorträge zusammen, so lässt sich sagen, dass die Not der Jugendhilfe eine größere ist als die der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Das liegt primär an der Finanzierung. Während Kosten für die Kinder- und Jugendpsychiatrie über Krankenschein gehen, muss in der Jugendhilfe ein kompliziertes Genehmigungssystem berücksichtigt werden, die Kosten tragen die Kommunen. Und jede/r weiß um die finanzielle Klemme, in der sehr viele deutsche Kommunen stecken.

Mängel der beiden Systeme

Die Ärzteschaft ist im Allgemeinen für kinder- und jugendpsychiatrische Probleme nicht ausreichend qualifiziert, weil die Kinder- und Jugendpsychiatrie in der Approbationsordnung kein Pflichtfach ist. So verschreiben Hausärzte Medikamente, ohne ausreichende Kenntnis der zugrunde liegenden Störungen und der medikamentösen Möglichkeiten. Die Bestechlichkeit vieler ÄrztInnen und damit unangemessene Medikationen brachten ausgerechnet die Chefärztin Prof. Dr. Renate Schipker und der Chefarzt Prof. Dr. Jörg Fegert ins Gespräch. Beide versicherten, dass sie keine finanziellen Mittel der Pharma-Industrie erhalten. Es ist zwar traurig, dass ÄrztInnen heute solch eine Aussage machen müssen, um ihre Integrität unter Beweis zu stellen. Für die beiden Mediziner ergab sich jedoch eine erhöhte Glaubwürdigkeit für alle ihre Aussagen. Ein Mangel der Jugendhilfe sind ihre fehlenden Ressoucen, die dazu führen, dass sie Kinder oder Jugendliche nicht (mehr) aufnehmen kann. Aber auch hier gibt es Professionelle, die für die anstehenden Aufgaben nicht ausreichend qualifiziert sind. Beklagt wurde von beiden Seiten, dass eine Anschlusseinrichtung nach Verlassen einer psychiatrischen Einrichtung von seiten der Jugendhilfe oft nicht gegeben oder nicht entsprechend ausgestattet ist. Prof. Dr. Renate Schipker vom Zentrum für Psychiatrie in Ravensburg, berichtete von den Schwierigkeiten von Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie, bei sehr schweren psychischen Störungen Hilfe zu leisten. Bei manchen Jugendlichen kommt die Hilfe schlicht zu spät. Immer wieder wurde eine bessere Kooperation zwischen den Einrichtungen verschiedener Systeme gefordert. Als zusätzliche Schwierigkeit erweisen sich unterschiedliche Interpretationen von Gesetzen und Begriffen. Die Jugendhilfe, so Dr. Michael Kölch, Oberarzt aus dem Universitätsklinikum Ulm, müsse Verlässlichkeit bieten und kooperativ sein. Aber die Jugendhilfe hat keine ausreichenden Ressourcen, und Kooperation, darauf verwies seine Kollegin Ute Ziegenhain, kostet Zeit. Das Geld reicht also in beiden Systemen nicht aus.

Verbesserungsvorschläge

Der Leiter des Jugendamts Friedrichshain-Kreuzberg, Thomas Harkenthal, sah in einer Ergänzung beider Systeme durch das jeweils andere und in einer Finanzierung von Teilleistungen der Jugendhilfe durch die Kinder- und Jugendpsychiatrie eine Lösung. Eine Mischfinanzierung sei anzustreben, so auch die Leiterin des Jugendamts Karlsruhe, Dr. Susanne Heynen. Fallverläufe müssten analysiert werden. Deutlich wurde: Eine bessere personelle Ausstattung der Jugendhilfe und der Kinder-und Jugendpsychiatrie zur effektiveren Hilfe für die Kinder und Jugendlichen, aber auch für eine bessere Kooperation, ist erforderlich.  Eine valide Evaluation der Maßnahmen der Jugendhilfe wäre ein dringendes Anliegen der Forschung. Die Politik wäre aufgerufen, die Entscheidung für das neue Kinderschutzgesetz nochmals zu überdenken. Die „kleine Lösung“, nämlich die Integration der Behindertenhilfe in die Jugendhilfe ist aber immerhin ein Anfang. Den ausführlichen Bericht finden Sie unter www.ErzieherIn.de.