GEW: „Alle Kinder sollen gemeinsam lernen!“

Bildungsgewerkschaft zur Tagung „Bildung konsequent inklusiv“ des Projekts Kinderwelten und der GEW

Berlin – „Alle Kinder müssen die Möglichkeit haben, gemeinsam zu lernen. Die Zeit der Aussonderung muss in Deutschland endlich überwunden werden“, sagte Norbert Hocke, für Jugendhilfe und Sozialarbeit verantwortliches Vorstandsmitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), am Freitag in Berlin. Während der Tagung „Bildung konsequent inklusiv“ verlangte er vor fast 1.000 Erzieherinnen und Erziehern sowie Vertretern von Kommunen, freien Trägern und Hochschulen: „Statt ständig neue Modellversuche und Erprobungsprogramme zu starten, die nach kurzer Zeit wieder verschwinden, müssen jetzt endlich Konsequenzen gezogen werden. Das Projekt Kinderwelten hat in zehn Jahren einen großen Erfahrungsschatz gesammelt. Diese Konzepte müssen jetzt allen Erzieherinnen zur Verfügung gestellt werden.“ Hocke schlug vor, das Projekt unter dem Leitmotiv der „Inklusion“ fortzuführen. Mit Blick auf die UN-Konventionen Kinderrechte und Rechte von Menschen mit Behinderungen sei es an der Zeit, Bildungs- und Erziehungseinrichtungen institutionell stärker zusammenzuführen. „Die Ankündigung der Kultusminister, ein neues Institut für standardisierte Sprachtests aufzubauen, ist der falsche Weg“, betonte Hocke. Hier werde lediglich auf eine, wenn auch wichtige, Kompetenz fokussiert, alle Kinder würden nach dem gleichen Maßstab beurteilt. Das widerspreche allen Erkenntnissen über Entwicklungs- und Lernprozesse von Kindern. „Individuelle Förderung und inklusive Pädagogik sind viel sinnvoller als ein bundeseinheitlicher Sprach-TÜV“, unterstrich der Kita-Experte. Eine neue Bundesprachbehörde verschlinge Steuergelder in Millionenhöhe. Erzieherinnen müssten ihre erfolgreichen Konzepte der individuellen Förderung von Kindern endlich umsetzen können, ohne ständig durch Querschläge so genannter Bildungsexperten an der Arbeit gehindert zu werden. Info: Die GEW vertritt seit Jahren den bildungspolitischen und pädagogischen Ansatz der „Inklusion“. Inklusive Pädagogik will Gleichberechtigung und Partizipation in einem nachhaltigen, systematisch entwickelten Prozess fördern. Inklusion ist die konsequente Weiterführung der Integration. Der Begriff Integration legt nahe, Kinder lediglich in ein bestehendes System hereinzunehmen - ohne dieses substanziell zu verändern. Inklusion geht dagegen davon aus, dass das Recht aller Kinder auf gemeinsame Bildung und Erziehung nur durch einen umfassenden Reformprozess zu realisieren sei. Schulen wie Kindertagesstätten sollen so ausgestattet werden, dass sie kein Kind aussondern müssen. Alle – Kinder, Jugendliche, Pädagoginnen und Pädagogen, Eltern, Verwaltung, Politik – tragen dazu bei, dass Inklusion gelingt.
Der Ansatz der Inklusion konstruiert das pädagogische Konzept und die daraus sich ergebenden notwendigen Ressourcen nicht vom jeweiligen individuellen Förderbedarf z. B. des behinderten Kindes oder des Kindes nicht-deutscher Muttersprache, er formuliert ein sehr weitgehendes, allgemeines, ganzheitliches Konzept für alle Kinder. Es geht darum, das gemeinsame Spielen, Lernen und die möglichst umfassende Teilhabe für alle Kinder zu realisieren. Nicht zuletzt durch die UN-Konventionen zur Antidiskriminierung, zu den Kinderrechten und - vor allem - den Rechten der Menschen mit Behinderungen ist Inklusion jetzt auch stärker in den Fokus öffentlicher Debatten gerückt. Zahlreiche Organisationen aus Jugendhilfe und Schule, den Sozialverbänden und Kommunen beteiligen sich daran. Am Centre for Studies on Inclusive Education (CSIE), einem Netzwerk mit Experten aus Wissenschaft und Praxis in Großbritannien, haben Tony Booth, Mel Ainscow und Denise Kingston im Jahr 2004 einen „Index für Inclusion“ erarbeitet, mit dessen Hilfe man „Lernen, Partizipation und Spiel in einer inklusiven Kindertageseinrichtung entwickeln“ kann. Kurze Zeit später hat die GEW die Rechte erworben, den „Index“ in einer deutschsprachigen Fassung zu veröffentlichen. Seit Januar 2006 wurden drei Auflagen vorgelegt.

Im Projekt Kinderwelten wurde über einen Zeitraum von zehn Jahren in über 100 Bildungseinrichtungen das Konzept der „vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung“ eingeführt. Beteiligt waren Kindertagesstätten, Schulen sowie Ausbildungsstätten für Erzieherinnen in Baden-Württemberg, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Thüringen und dem Saarland. Das Projekt ist zudem Mitglied im europäischen Netzwerk DECET (Diversity in Early Childhood Education and Training). Träger des Projekts ist das Institut für den Situationsansatz in der Internationalen Akademie an der FU Berlin.
Die Finanzierung erfolgte aus Mitteln der Bernard van Leer Foundation (Den Haag) sowie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ). Das Konzept basiert auf dem in Kalifornien (USA) von Louise Derman-Sparks entwickelten „Anti-Bias-Approach“. Unter dem Motto „Vielfalt respektieren, Ausgrenzung widerstehen“ geht es um die „Spannung zwischen dem Respekt für Vielfalt und dem Nichtakzeptieren von Unfairness und Diskriminierung“. Das Respektieren von Unterschieden als bewusste Überwindung einer Perspektive, die jeweils nur das Eigene als richtig und wichtig erachtet, muss jeweils zusammenkommen mit der kritischen Frage, ob wirklich die Würde und die Rechte aller Beteiligten gewahrt und geschützt sind. Es geht einerseits um die Erweiterung der eigenen Offenheit für Lebensentwürfe und Gepflogenheiten von Familien. Und gleichzeitig um eine Vergewisserung der eigenen moralischen Werte sowie eine klare Positionierung, wenn diese missachtet werden. Der Ansatz ist ein Beitrag zur Menschenrechtsbildung, der auf den UN-Menschen- und Kinderrechten basiert und diese erfahrbar und bekannt macht. Gefragt sind Bildungskonzepte, die unterschiedliche Ausgangslagen und Lebensverhältnisse berücksichtigen, ohne die Kinder zu stigmatisieren und ihre Bildungsansprüche zu reduzieren: „Alle Kinder sind gleich“ – mit Blick auf ihre Rechte auf Entfaltung und Bildung, auf Identität und Schutz. „Und jedes Kind ist besonders“ – mit Blick auf seine Voraussetzungen, seinen Weltzugang, seine Erfahrungen und seine Familienkultur. Beide Sätze spiegeln das Motto vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung wider.

Quelle: Pressemitteilung der GEW vom 11.06.2010
http://www.gew.de/GEW_Alle_Kinder_sollen_gemeinsam_lernen.html