Arbeiterkind.de: Ein Studium darf nicht von der Herkunft abhängig sein

30.11.2009 | Sozialpolitik

Arzt oder Jurist zu werden sei für ein Arbeiterkind oft undenkbar. Wer aus der Rolle falle, habe es nicht nur an der Uni, sondern auch in der Familie oft schwer.

Eine der zentralen Forderungen der bundesweit protestierenden Studierenden ist die Abschaffung der Studiengebühren. Man müsse auch studieren können, wenn man aus einfachen Verhältnissen stamme, argumentieren sie. De facto aber kommen heute 58 Prozent der Studierenden aus Familien, in denen mindestens eines der Elternteile Akademiker ist, berichtet die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG in dem Artikel »Das vorherbestimmte Studium«. »Kinder aus Arbeiterfamilien studieren eher an Fachhochschulen, wenn überhaupt«, schreibt das Blatt. Arzt oder Jurist zu werden sei für ein Arbeiterkind oft undenkbar. Wer aus der Rolle falle, habe es nicht nur an der Uni, sondern auch in der Familie oft schwer, schreibt Katja Urbatsch, Gründerin des Netzwerkes Arbeiterkind.de, heute im Tagebuch. In Deutschland lässt sich die Wahrscheinlichkeit, ob ein Kind studieren wird, am Bildungsstand der Eltern ablesen. Laut der aktuellen Sozialstudie des deutschen Studentenwerks nehmen von 100 Akademikerkindern 83 ein Hochschulstudium auf. Dagegen studieren von 100 Kindern nicht-akademischer Herkunft lediglich 23, obwohl doppelt so viele die Hochschulreife erreichen. Die hohe finanzielle Belastung ist dabei nur einer von vielen Gründen, die Abiturienten, deren Eltern nicht studiert haben, häufig von einem Studium abhalten. Wer selbst aus einer nicht-akademischen Familie stammt und trotzdem studiert hat, kennt weitere typische Gründe: So rät das eigene familiäre Umfeld häufig eher zu einer Ausbildung, da ihm dieses vertraut ist und ein sofortiges regelmäßiges Einkommen verspricht. Zudem trauen sich viele Abiturienten aus nicht-aka- demischen Familien trotz hervorragender Noten ein Studium nicht zu, da sie nicht abschätzen können, was sie erwartet und sie bezüglich ihrer Erfolgs- und Berufsaussichten sehr unsicher und tendenziell eher pessimistisch sind. Darüber hinaus verfügen sie meist auch über zu wenig Informationen und Unterstützung bezüglich der Studien- finanzierung und fühlen sich mit der Aufnahme von Schulden, auch in Form von BAföG, sehr unwohl - beziehungsweise haben große Angst, diese nicht zurückzahlen zu können. Die 50 Prozent der Abiturienten, die sich schließlich doch für ein Studium entscheiden, sehen sich während des Studiums mit weiteren Schwierigkeiten konfrontiert, die zu einem geringeren Studienerfolg oder sogar zum Studienabbruch führen können: Mangelnde familiäre Unterstützung emotionaler und finanzieller Art, weniger Vertrautheit mit dem »System Hochschulstudium«, Selbstzweifel, Defizite im akademischen sprachlichen Ausdruck sowie Probleme bei der Studienfinanzierung. So ist beispielsweise auch die Möglichkeit, von den elf staatlich finanzierten Studienförderwerken unterstützt zu werden unter Schülern und Studierenden, die als Erste in ihrer Familie einen Studienabschluss anstreben, meist gänzlich unbekannt. Die meisten erfahren weder während ihrer Schul- noch ihrer Studienzeit von der Möglichkeit, sich um Stipendien bewerben zu können. Und falls sie durch Zufall doch davon erfahren, sind sie im Studium schon viel zu weit fortgeschritten oder halten sich auch mit sehr guten Noten für »nicht gut genug«, um aufgenommen zu werden, sodass sie noch nicht einmal einen Bewerbungsversuch beginnen. Mir liegt besonders am Herzen, dass junge Erwachsene studieren können, die aus ihren Familien keine finanzielle Unterstützung erhalten. Unabhängig davon, ob an den Hochschulen Gebühren verlangt werden oder nicht: die finanzielle Hilfe für Studierende sollte überdacht werden, denn weder BAföG noch die bis jetzt vorhandenen Stipendien- programme haben bisher das Problem in der Praxis lösen können. Für diejenigen, die nach einer Ausbildung ein Studium anstreben, sollte es möglich sein, auf einem einfachen Weg den Hochschulzugang zu erhalten, denn langwierig das Abitur nachzuholen ist für viele finanziell nicht machbar. Generell sollten die Hochschulen offener werden, denn wer in der Familie keine Akademiker hat, tut sich oft schwer mit der akademischen Kultur und Arbeitsweise, daher sind mehr Beratung und gezielte Angebote notwendig. Über Katja Urbatsch Katja Urbatsch, geboren 1979, ist selber als erste Akademikerin in ihrer Familie mit den Problemen von Kindern aus hochschulfernen Familien vertraut und hat daher 2008 die bereits mehrfach ausgezeichnete Initiative Arbeiterkind.de gegründet. Sie promoviert am International Graduate Centre for the Study of Culture (GCSC) der Justus-Liebig-Universität Gießen und wird als Stipendiatin der Hans-Böckler-Stiftung gefördert. Das Magisterstudium Nordamerikastudien, Betriebs- wirtschaftslehre und Publizistik- und Kommunikationswissenschaft hat sie an der Freien Universität Berlin absolviert.

Quelle: Newsletter Aktion Mensch vom 29.11.2009; Die Gesellschafter.de, Eintrag vom 30.11.2009, Autorin: Katja Urbatsch, Studentin und Gründerin des Netzwerkes Arbeiterkinder.de; URL: http://diegesellschafter.de/tagebuch/index.php?z1=1259610282&z2=86087590c515133baaf99c390e18a1c2& (Aufruf am 30.11.2009)