Sex sells? Warum die Eingliederungshilfe über Sexualität sprechen sollte
Fachkräftemangel, Bundesteilhabegesetz, Digitalisierung, Teilhabeorientierung und gleich nochmal Fachkräftemangel: Wer sich mit den aktuellen Diskussionen in der Eingliederungshilfe beschäftigt, merkt schnell, dass es sich dabei um ein Feld handelt, das sich sehr dynamisch entwickelt und derzeit extrem im Fluss ist. Änderungen liegen in der Luft, viele Themen werden behandelt, viele Aufgaben liegen vor den pädagogischen Teams. Eine Frage ist dabei jedoch auffällig häufig kein Thema: Sexualität und sexuelle Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung.
Sexualität als Tabu
Das ist insofern verwunderlich, als dass Sexualität im Alltagsleben der meisten Menschen und insbesondere in der medial vermittelten Öffentlichkeit nahezu überpräsent erscheint, in Bezug auf Menschen mit Behinderung jedoch oftmals selten angesprochen wird. Die Frage danach, wie sexuelle Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung gefördert werden kann oder wie Menschen mit Behinderung in institutionellen Kontexten Nähe und Partnerschaft ausleben können, ist in der Eingliederungshilfe insbesondere für Menschen mit Schwermehrfachbehinderung flächendeckend noch nicht abschließend beantwortet worden. Einrichtungen der Behindertenhilfe beschäftigen sich eher nicht mit Fragen wie z.B. „Wie wird eigentlich innerhalb unserer Einrichtung und unserer Teams über Sexualität gesprochen?“ Oder „Wie wird mit den Äußerungen der Klient*innen zum Thema Sexualität umgegangen?“ Auch Weiterbildungen zu sexueller Selbstbestimmung oder auch sexualisierter Gewalt werden entweder selten angeboten oder wenn doch, dann eher selten besucht und erhalten nicht die Aufmerksamkeit, die sie verdienen. Als Folge wird das Thema sexuelle Selbstbestimmung nur von wenigen, auf diesem Themenfeld besonders engagierten Mitarbeitenden getragen.
Vor dem Hintergrund, dass ein Großteil der Behinderungen in Deutschland erworben werden, also ein (Sex-)Leben vor der Behinderung hatten, aber selbstverständlich auch Menschen mit angeborenen Behinderungen grundgesetzlich fundiertes und in den Artikeln 23 und 25 der UN-Behindertenrechtskonvention formuliertes Recht auf sexuelle Selbstbestimmung haben, ist diese Nichtbeachtung eine Herausforderung. Nicht zuletzt ist die Beschäftigung mit sexueller Selbstbestimmung auch ein wirksames Mittel, um Prävention vor sexualisierter Gewalt zu betreiben. Denn das Wissen über Sexualität und den eigenen Körper macht Menschen mit Behinderung erst sprachfähig und versetzt sie in die Lage, über erfahrene Grenzüberschreitungen zu kommunizieren.
Was Einrichtungen tun können
Die Tabuisierung sexueller Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung ist also ein Problem, dem sich die Träger der Eingliederungshilfe aktiv zuwenden müssen. Für die Durchsetzung sexueller Selbstbestimmung ist eine sexualfreundliche Haltung der Fachkräfte von zentraler Bedeutung. Daher ist es wichtig, Fachkräfte für die sexuellen Belange und Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen zu sensibilisieren. Insbesondere die Leitungskräfte sollten sich dafür einsetzen, dass die Behandlung von Sexualität und sexueller Selbstbestimmung im Alltag zu einer Selbstverständlichkeit wird. Eine Möglichkeit ist z.B., ansprechende (und eventuell verpflichtende) Weiterbildungen und Fachtage zu etablieren, aber auch das Thema in die regelmäßig stattfindenden Teambesprechungen zu bringen. Das heißt, Themen wie „Nähe und Distanz“ müssen genauso wie eine Blitzlichtrunde und die Punkte Dienstplanung, Fortbildungen, etc. zu einem regelmäßigen Protokollpunkt in den Teams und den Bewohner*innensitzungen werden. Dadurch entsteht ein Raum, um über gelungene oder schwierige Situationen in Bezug auf Sexualität, in Bezug auf persönliche Grenzüberschreitungen oder persönliche Grenzen, aber auch in Bezug auf Intimität, Nähe und Partnerschaft zu reflektieren. Selbst wenn es, was gerade zu Beginn anzunehmen ist, bei manchen Terminen keine Themen für diese Rubrik gibt, sollte man sie kontinuierlich fortführen, um diesen Reflexionsraum offen zu halten. Es empfiehlt sich zudem, externen Input beispielsweise durch Sexualbegleiter*innen, Beratungsstellen oder spezialisierte Angebote anderer Träger in die Teams sowie Einrichtungen zu holen und immer wieder auf die Bedeutung sexueller Selbstbestimmung hinzuweisen. Hier sind insbesondere die Leitungskräfte gefordert, eine entsprechende Kultur zu etablieren und dauerhaft nachzuhalten.
Fazit: Ein wichtiges Thema
Sexuelle Selbstbestimmung für Menschen mit Behinderung, insbesondere mit kognitiven Einschränkungen und/oder Mehrfachbehinderung, ist ein zu wichtiges Thema, um es dem individuellen Engagement einzelner Mitarbeitender zu überlassen. Denn die Förderung sexueller Selbstbestimmung ist nicht nur ein wesentlicher Bestandteil der individuellen Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung, sondern leistet darüber hinaus einen wesentlichen Beitrag zur Prävention sexualisierter Gewalt in den Einrichtungen der Eingliederungshilfe.
Leistungsträger und ihre Leitungskräfte sind gut beraten, sich dem Thema zu widmen und im Rahmen unterschiedlicher Maßnahmen immer wieder auf die Bedeutung sexueller Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung hinzuweisen und das Thema so Stück für Stück in den Alltag zu bringen.
Die Fürst Donnersmarck-Stiftung führt am 15. November 2023 einen Aktionstag zum Thema Sexuelle Selbstbestimmung durch. Alle Informationen zu der Veranstaltung finden sich hier.