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Von der Fremdenfeindlichkeit zur Fremdenfreundlichkeit!? Über Nationale Identität und Fremdheit

von Prof. Dr. Richard Utz
27.10.2015 | Soziale Arbeit, Sozialpolitik | Schwerpunkte Kommentare (0)

Die öffentliche Stimmung wechselt. Vor einem Monat akzeptierte die Mehrzahl der Deutschen laut Umfrage die Aufnahme von Flüchtlingen aus den kriegs- und terrorgeplagten Ländern des Nahen Ostens. Heute zeigen die Umfragen wachsende Skepsis, Angst und Ablehnung gegenüber dem kriegsbedingten Flüchtlingsstrom nach Deutschland. Weicht die Willkommenskultur einem Grenszschließungsrigorismus und Abschiebenationalismus? Weicht die Kanzlerin Angela Merkel dem wachsenden Widerstand aus der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und den Unionsregierten Ländern, allen voran Bayern und Sachsen? Was wird aus Frau Merkels Parole „Wir schaffen das!“, der uns an Barak Obamas „Yes we can!“ erinnert? Und wir wissen, wie viele Abstriche der amerikanische Präsident von dem hat hinnehmen müssen, was er sich für seine Amtszeit vorgenommen hatte!

Welche Reaktionen auf die Massenimmigration lassen sich in Deutschland beobachten? Da ist einmal Angela Merkel und die großartige Willkommenskultur mit all ihren Helfern, da sind zweitens die zahlreicher werden Exponenten der Christlichen Parteien wie der ehemalige CSU-Innenminister Friedrich und ihr Grenszschließungsrigorismus, die für Schließung der europäischen und nationalen Grenzen und für die Einrichtung von Transitzonen plädieren, um die – wörtlich - „territoriale Integrität“, die Stabilität und die nationale Identität Deutschlands zu sichern, und da sind schließlich die Dresdner Pegida-Demonstrationen und andernorts mit ihrem aggressiven Abschiebenationalismus und ihren Untergangsfantasien bezüglich dessen, was der Bevölkerung, die sie  für das deutsche Volk halten, durch die Menschen droht, die auf der Flucht sind und Schutz und Hilfe suchen.

Allen drei Reaktionsformen: der Willkommenskultur, dem Grenszschließungsrigorismus und dem aggressiven Abschiebenationalismus liegen letztlich auch politische Identitätsideen oder -vorstellungen darüber zu Grunde, als was für ein „Land“, wie Frau Merkel öfters betonte, sich die Bundesrepublik Deutschland selbst verstehen sollte. Und diesen basalen Vorstellungen über die politische Identität der Bundesrepublik will ich in der nächsten halben Stunde nachgehen. Das möchte ich in der knapp bemessenen Zeit in drei kurzen Schritten Weise tun:

  1. Möchte ich klarzumachen versuchen, worin das Besondere der politischen Identitätsidee der Nation besteht;
  2. Möchte ich sodann die nationsbezogenen Identitätsvorstellungen sortieren, die in der Willkommenskultur, dem Grenszschließungsrigorismus und dem aggressiven Abschiebenationalismus zum Ausdruck kommen. Diese Identitätsvorstellungen lassen sich mit Hilfe der Geschichte der politischen „Idee“ der „Nation“ in Deutschland identifizieren.
  3. Sodann möchte ich die insgesamt vier identifizierten Nationskonzepte auf ihre  Konsequenzen für die Einstellungen gegenüber Menschen befragen, die als Flüchtlinge und als Fremde zu uns kommen und hier Asyl begehren.

Zu einer These zugespitzt: Die Art und Weise, wie die Deutschen sich selbst mit Hilfe der Identitätsvorstellung „Nation“ definieren, beeinflusst die Art und Weise, wie sie Fremden und Flüchtlingen gegenüber eingestellt sind, eher fremdenfeindlich oder eher fremdenfreundlich.

Es ist klar, dass ich mit dieser These weder die derzeitige Flüchtlingspolitik noch die konkrete Willkommenspraxis oder gar die Brandanschläge auf gerade fertiggestellte Flüchtlingsunterkünfte oder das Attentat auf die Kölner Oberbürgermeisterkandidatin Reker vom letzten Samstag als Handlungsweisen erklären oder deuten kann; dafür ist meine These zu unterkomplex. Denn ich ziele in meinem Vortrag auf „Ideen“, genauer: auf die „Nationsideen“ und den Einfluss, den sie auf die Einstellungen der politischen Klasse und der Bevölkerung der Bundesrepublik haben könnten, nicht auf konkretes legales oder illegales Handeln und Reagieren der Politiker und Bürger. Denn Handeln, und das politische Handeln zumal, wird in aller Regel nur mittelbar von politischen „Ideen“ oder kognitiven Konstruktionen oder Selbstkonzepten auf konkrete Bahnen verwiesen. Unmittelbar und direkt sind es Interessen welcher Art auch immer, die das tatsächliche, empirische Handeln der Menschen bestimmen -  allerdings meist auf der Bahn, die die Ideen den Menschen vorzeichnen. Mit anderen Worten: Nationsideen sind Landkarten, die der Politik einen Möglichkeitsraum zeigen, den das interessierte Handeln mit politischer Wirklichkeit füllt. [1]

Das als methodologische Vorbemerkung.

I.

Ich komme zu meinem ersten Punkt, zur Frage, worin das Besondere der politischen Identitätsidee der Nation besteht.

Um besser verstehen zu können, warum moderne Demokratien sich mit Hilfe der Idee der „Nation“ als politische Gebilde selbst verstehen, wollen wir uns kurz den Unterschied zwischen dynastisch verfassten Monarchien und nationalstaatlichen Demokratien klarmachen.

Als Folge der Amerikanischen und vor allem der Französischen Revolution im 18ten Jahrhundert verlor die Idee an Geltung, dass imperiale und monarchische Staaten von Familiendynastien regiert wurden. Die Dynastie als ein blutsverwandtschaftlich geschlossener Familienverband war im vorbürgerlichen Europa der Souverän im Staat und nicht wie in den heutigen nationalstaatlichen Demokratien das „Volk“ oder der >Demos<. Dynastien betrachteten den Staat als Familienbesitz und repräsentierten in erster Linie ihre Herrscherhäuser und wenn überhaupt dann immer nachrangig die Bevölkerung, die auf dem Staatsgebiet ihrer Königreiche oder Imperien siedelten und wohnten. Und weil Dynastien keine Bevölkerung repräsentieren wollten, wurde diese Bevölkerung auch nicht als >Volk< verstanden, d.h. als eine irgendwie qualifizierte und definierte Einheit einer Bevölkerung. Das heißt: Dynastische Systeme waren im Idealfall ethnisch und kulturell weitestgehend indifferent, setzten kein einheitliches Volk als ihre Bevölkerung voraus, sondern duldeten Vielheit und Verschiedenartigkeit der Bevölkerung! [2]

Ganz anders, und auf diesen Unterschied kommt es mir an, verhielt und verhält es sich in den modernen Nationalstaaten, wo sich die Idee, die Bevölkerung sollte eineinheitliches Volk sein, mit der Organisationsform des Staats verbindet und damit geschichtsmächtig wird. Hier ergibt sich nun aber folgendes Problem: Der demokratische Souverän, das „Volk“, ist nicht einfach mit der Bevölkerung identisch, das auf dem Gebiet des Nationalstaates lebt. Denn empirische Bevölkerungen setzen sich faktisch immer aus einer Vielzahl von Sozialgruppen zusammen, die sich in komplexer Weise unterscheiden und uneinheitlich sind. Das heißt aber,

erstens die existierende Bevölkerung muss als politische Einheit gedacht werden, damit sie zum Souverän eines demokratischen Staates werden kann. Und diese gedachte Einheit der Staatsbevölkerungen wird in Europa seit der französischen Revolution mit Hilfe der Einheitsfiktion oder anders ausgedrückt: mit Hilfe der Identitätsidee der >Nation< von den politischen Eliten und Intellektuellen konstruiert; [3]

Zweitens die „Nation“ ist keine urwüchsige und quasi organisch gewachsene Identitätsidee, über die sich ein Staat und eine Bevölkerung quasi naturbedingt selber sagen könnten, wer sie sind und wen sie als Mitglied und wen sie als Nichtmitglied oder als Fremde auffassen und behandeln. Und mit etwas analytischer Fantasie lässt sich erkennen, dass sich die jeweilige „Nationsidee“ über die in sie eingehenden inhaltlichen Konstruktions- oder Definitionskriterien ergeben. Diese Definitionskriterien der „Nation“ schreiben fest, was und wie die Einheit des Eigenen und Eigentümlichen des „Volkes“ sein soll, und sie machen aus Bevölkerungen ein souveränes Staatsvolk. Diese Definitionskriterien legen in unserem Fall positiv fest, wie z.B. die Identität der >Deutschen< als Staatsvolk definiert, also wer zu den Deutschen gehören soll; und diese Kriterien definieren implizit immer auch negativ mit, was als das Uneigene und wer und wie ein Fremder oder Nationsfremder verstanden und behandelt werden soll. [4]

II.

Damit kommen wir zu der Frage: Welche Kriterien jeweils in die Definition oder Konstruktion der Identitätsvorstellung der „Deutschen Nation“ eingehen? Mit M.Rainer Lepsius lassen sich letztlich vier solcher leitender Nationsideen identifizieren. Sie sind Ausdruck für die Diskontinuitäten der Deutschen Geschichte, die sich unschwer an den Systemwechseln der letzten 145 Jahre ablesen lässt: Auf das 1918 sang- und klanglos untergegangene Kaiserreich folgte die Weimarer Republik, die von den alten Eliten des Kaiserreiches in Kollaboration mit den Nazis abgeschafft und durch den verheerenden Nazi-Totalitarismus ersetzt wurde, den die Alliierten Streitkräfte 1945 besiegten, was die deutsche Teilung in die DDR und die BRD zur Folge hatte, die schließlich am 3. Oktober 1990 mit dem Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland nach Artikel 23 GG in die heutige Bundesrepublik mündete.  

Die vier Identitätsideen, die in der deutschen Geschichte zu identifizieren sind, lauten folgendermaßen:

Erstens wurde und wird die Zugehörigkeit zur deutschen Nation kulturell als sprachliche, religiöse und durch eine gemeinsame Geschichte verbundene Gemeinschaft gedacht -  das ist die Identitätsidee der Deutschen  als einer Kulturnation.

Die Kulturnation konstruiert die Einheit einer Bevölkerung über die gedachte kulturelle Gleichheit von Menschen über die gemeinsame Sprache, Religion, Geschichte, Kunst oder über kulturelle Praktiken.

Historisch ist die Idee der Kulturnation in Deutschland während der  langen Periode nach dem Dreißigjährigen Krieg (1618-1648) entstanden, in der sich das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, wie es sich nannte, territorial endgültig in zahllose Klein- und Kleinstfürstentümer zersplitterte und der Westfälische Frieden fremden Mächten wie Frankreich und Schweden Interventionsrechte einräumte. Bis 1871 fungierte die Idee der Deutschen als einer Kulturnation als Identitätsklammer und sie hielt während der Teilung der beiden deutschen Staaten die Möglichkeit eines vereinten Deutschlands in der Idee präsent. Kulturnation, das war vor allem die Vorstellung einer Hochkulturnation, die die Einheit der Deutschen über ihre Sprache, über kulturelle Kompetenzzentren wie der Weimarer Klassik und literarischen Bewegungen wie der Romantik und philosophischen Strömungen wie dem Deutschen Idealismus in der Philosophie konstruierte.

Faktisch gehören zur Kulturnation alle diejenigen, die die deutsche Sprache sprechen, sich irgendwie mit deutscher Hochkultur identifizieren und – so hört man immer wieder – auch der christlichen Religion anhängen. Die Idee der Kulturnation verband sich historisch nicht mit der Organisationsform eines deutschen Staates und bleibt  vor allem als Diskurselement im Wahlkampf verfügbar, so zum Beispiel wenn konservative Politiker plötzlich von einer deutschen Leitkultur sprechen. Die Frage lautet dann, was das sein soll: Schwarzwälder Folklore oder Hanseatische Patrizierkultur, großstädtischer Kosmopolitismus oder kleinstädtischer Provinzialismus, katholisch oder protestantisch, preußisch oder bayerisch? Auf die Frage „Was ist Deutsch?“ gibt es keine befriedigenden Antworten, zu diskontinuierlich und zu zerspalten ist unsere Geschichte.

Zweitens wurde und wird die Zugehörigkeit zur deutschen Nation als ethnische und biologische Abstammungsgemeinschaft definiert – das ist die Identitätsidee der Deutschen als einer Volksnation.

Die Volksnation konstruiert die Einheit einer Bevölkerung also über ethnische und so genannte „rassisch-biologische“ Merkmale, die als invariant und vererbbar gedacht werden, im extremen Fall „für alle Ewigkeit“ an die biologisch-genetische Verfassung von Menschen gebunden. Da in der Regel keine rassisch-biologischen Körpermerkmale gefunden werden können, die diese Art der Einheit eindeutig herzustellen erlauben, werden zumeist ethnische, aber auch kulturelle Zusatzkriterien zur Konstruktion einer „Nations-Zugehörigkeit“ benutzt.

Das historische Beispiel ist Nazi-Deutschland. Hier verband sich die Idee der „Volksnation“ mit einem totalitären Staatsapparat. Das hatte bekanntlich katastrophale außenpolitische und innenpolitische Konsequenzen. Außenpolitisch begründete die deutsche Volksnation den aggressiven militärischen Expansionsdrang nach Osteuropa und den damit verbundenen Genozid der autochthonen Bevölkerung.
Die Vorstellung war, dass die durch Streusiedlung hervorgerufenen deutschen Minderheitslagen in Polen, Tschechoslowakei, Russland und Ungarn wieder mit dem organischen deutschen Volk zu einer Einheit zusammengeführt werden sollten. Konsequenz war, dass die als höherrangig gedachte Volksnation der Deutschen in einem territorial geschlossenen Staatsgebiet leben sollte, in dem die als rassisch minderwertig angesehene, nichtdeutsche Bevölkerung als so genannte „Untermenschen“ in einer Art Sklavenexistenz für die deutschen „Herrenmenschen“ arbeiten sollten.

Im Außen- und im Innenverhältnis war und ist die Volksnation ein vorpolitisch bestimmtes Kollektiv, das immer eine einzigartige Höherrangigkeit der homogen gedachten Eigengruppe beansprucht, die gerne als deutsche Schicksalsgemeinschaft gedacht wurde und wird. Alle als Fremde gedachten Gruppen werden als nichtdeutsch oder als undeutsch oder gar als minderwertig diskriminiert und entrechtet, und, wie der Nazitotalitarismus zeigt, in der Konsequenz auch massenhaft vertrieben und industriell ermordet.

Drittens wurde und wird die Zugehörigkeit zur deutschen Nation als Zugehörigkeit zu einer sozialen Klasse aufgefasst – das ist die Identitätsidee der Deutschen als einer Klassennation.

Die Klassennation konstruiert die Einheit einer Bevölkerung über die Zugehörigkeit zu einer sozialen Klasse. In der deutschen Geschichte wurde die Klassennation staatspolitischer Identitätsspender der DDR. Die Klassennation konstruierte ihre Einheit der Bevölkerung als eine sozial gedachte Einheit der Bauern und Arbeiter. 

Im Außenverhältnis bestand die politische Funktion der Klassennation in der Begründung der Eigenstaatlichkeit der DDR gegenüber der BRD, weil für die staatliche Identitätsbildung weder die Idee der „Volksnation“ noch die der „Kulturnation“ zur Verfügung standen – die Volksnation war von den Nazis diskreditiert und mit der Doktrin des Anti-Faschismus nicht kompatibel, die „Kulturnation“ behauptete eine Gemeinsamkeit und Einheitlichkeit beider deutscher Staaten und ihrer Bevölkerung, die der staatssozialistischen Unterscheidungspolitik der DDR gegenüber der als spätkapitalistisch verstandenen BRD gerade widersprach. 

Im Innenverhältnis können über die Selbstbestimmung der Bevölkerung als Klassennation nur Bauern und Arbeiter anerkannt werden. Die Ausbildung anderer Lebenslagen und sozialer Ungleichheiten überhaupt, wie sie sich in Beamten und Angestellten, Mittelschichten oder Bildungsungleichheiten ausdifferenzieren, wurden in der DDR offiziell geleugnet. 

Viertens und letztens wurde und wird Zugehörigkeit zur deutschen Nation als rechtlich geregelter Beitritt zu einem Nationalstaat begriffen – das ist die Identitätsidee der Deutschen als einer Staatsbürgernation.

Die Staatsbürgernation wird über staatsbürgerliche Gleichheitsrechte konstruiert, die mittels demokratischer Verfahren und durch demokratische Institutionen, letztlich durch die Rechtsordnung der Verfassung der Bundesrepublik legitimiert werden. Die Idee der Staatsbürgernation vereinheitlicht im Idealfall die Bevölkerung durch rechtliche Kriterien der Mitgliedschaft, die Gegenstand der öffentlichen politischen Debatte und des politischen Konflikts z.B. zwischen Parteien und sozialen Bewegungen werden können. Die Staatsbürgernation ist sowohl kultur- und klassen- als auch biologisch-ethnisch indifferent; sie ist jedoch nicht verfassungsneutral.

Im Innenverhältnis hängt die Realisierung der Staatsbürgernation von den sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Voraussetzungen und damit sozialstrukturellen Ungleichheiten ab, die in Spannung zu dem verfassungsrechtlichen Gleichheitspostulat der Staatsbürgernation treten. Diese internen Spannungen können durch offenen Konfliktaustrag in den Arenen der Öffentlichkeit, insbesondere in der Politik ausbalanciert und in befristete Konfliktlösungen überführt werden: Parteienwettbewerb, Tarifautonomie und Vereinigungsfreiheit etc. lassen eine Bearbeitung dieser intern mit der Durchsetzung der Staatsbürgernation erzeugten Konfliktlagen zu. Modellfall in der deutschen Geschichte ist der seit 1990 auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik bestehende deutsche Staat.

III.

Das waren die vier Nationsideen in historisch-analytischer Perspektive. Ich komme zu meinem dritten und letzten Schritt, mit dem ich die vier identifizierten Nationskonzepte auf ihre politischen Konsequenzen für die Einstellungen gegenüber Menschen befragen möchte, die als Flüchtlinge und als Fremde zu uns kommen und hier Asyl begehren. Die Flüchtlinge sind nicht nur im üblichen Sinne Fremde, die heute kommen und morgen bleiben, sondern die heute kommen und unsere Hilfe benötigen und morgen bleiben und unsere Hilfe benötigen. [5]

  1. Welche Haltung die Anhänger der Kulturnation Fremden und Flüchtlingen gegenüber einnehmen, die heute kommen und morgen bleiben, hängt in der Perspektive der Kulturnation von der Assimilationsbereitschaft der Flüchtlinge und Fremden ab, die für die Kulturnation die Voraussetzung für Integration und Zugehörigkeit zu Deutschland ist.

    Assimilation der Fremden scheint vom Standpunkt der Kulturnation aus gesehen die Erhaltung der oft beschworenen „nationalen Identität“ und der territorialen Sicherheit zu verbürgen.  Zeigen die als Fremde kategorisierten Flüchtlinge hingegen wenig oder keine Assimilationsbereitschaft kann die Zugehörigkeit zur Kulturnation von ihrem Standpunkt aus nicht erreicht werden. Die Fremden bleiben die Fremden, und wenn sie heute kommen, sollen sie morgen wieder gehen. Aus dieser Haltung könnte sich eine eher fremdenfeindliche Haltung  entwickeln.

    Die Kulturnation, so würde ich aus dem Gesagten folgern, ist Fremden gegenüber ambivalent – zeigen diese kulturelle Assimilationsbereitschaft, ist die Haltung eher fremdenfreundlich, zeigen diese keine oder wenig kulturelle Assimilationsbereitschaft, ist die Haltung eher fremdenfeindlich, was sich auch gut mit einer Politik des Grenzschließungsrigorismus verbinden lässt.

  2. Es fällt nicht schwer, sich die Haltung gegenüber Fremden und Flüchtlingen vorzustellen, die vom Standpunkt der Volksnation aus naheliegt. Fremde erscheinen im günstigsten Fall als „Gäste“, die also dann freundlich willkommen geheißen werden, wenn sie heute kommen und morgen gehen; Fremde aber, die heute kommen und morgen bleiben, sind unwillkommen und sollen erst gar nicht kommen.

    Vom Standpunkt einer biologisch-genetisch definierten Volksnation aus, mit der sich der neonazistische Rechtsextremismus identifiziert, können Fremde nicht Deutsche werden. Die Volksnation insistiert auf einer unaufhebbaren Differenz zwischen Deutschen und Fremden, markiert durch eine deutsche DNA oder das ominöse deutsche Blut, beides unhaltbare Hirngespinste, für die es keine naturwissenschaftlich haltbaren Belege gibt. Aber auch die ethnisch-kulturell definierte Volksnation ist nicht weniger exklusiv: Hiernach können Menschen nicht Deutsche werden, wenn sie gläubige Muslime sind, andere Geschlechterverhältnisse und Geschlechtsrollenskripte befolgen, wie das die Pegida-Bewegung in ihrer Programmatik deklariert. Aus der Perspektive der Volksnation gibt es für Fremde, die heute kommen und morgen bleiben, keine Zukunft als Deutsche. Deshalb demonstriert Pegida für einen immer aggressiveren Abschiebenationalismus und propagiert mehr oder weniger offen Fremdenfeindlichkeit bis hin zur Androhung von Gewalt.

  3. Welche Haltungen lassen sich auf dem Boden der Klassennation Fremden und Flüchtlingen gegenüber einnehmen, die heute kommen und morgen bleiben? Die Identifikationsidee der Klassennation spielt für die Bestimmung des demokratischen Souveräns der Bundesrepublik Deutschlands gegenwärtig keine besondere Rolle mehr, selbst die „LINKE“, die Nachfolgepartei der PDS,  kann inzwischen mehr wahrnehmen als Arbeiter und Bauern. Allerdings gab es auch von dieser Identitätsvorstellung aus die Möglichkeit, Menschen von der Klassennation auszuschließen, die dann aufgrund ihrer politischen Dissidenz als so genannte Klassenfeinde stigmatisiert und kriminalisiert, im schlimmsten Fall als Staatsfeinde gefangen gesetzt oder in die Bundesrepublik abgeschoben wurden. M.E. gibt es eine gewisse Affinität zwischen diesem Partikularismus der sozialen Klassen und dem Partikularismus der biologisch-ethnisch definierten Volksnation und der Kulturnation. Nicht zufällig formierte sich die Pegida-Bewegung zuerst in Dresden und nicht zufällig blüht der fremdenfeindliche rechte Populismus und NPD-Rechtsextremismus am stärksten in den neuen Bundesländern der ehemaligen DDR.

  4. Schließlich und letztens, welche Haltung Menschen gegenüber, die heute kommen und morgen bleiben, sind vom Standpunkt der Idee der Staatsbürgernation aus im Hinblick auf Fremdenfreundlichkeit oder Fremdenfeindlichkeit aus denkbar?

    Kanzlerin Merkel und mit ihr auch die Vertreter der Willkommenskultur betonen und beharren im Zusammenhang mit dem Flüchtlingszustrom primär darauf, dass es sich um Menschen, die aus Not zu uns kommen und hier Asyl begehren, nicht um Fremde handelt. Wenn ich diese Rede richtig verstehe, dann benutzen weder die Teilnehmer an der Willkommenskultur noch Frau Merkel ethnische, kulturelle oder religiöse und schon gar nicht ethnisch-biologische Narrative, wenn sie sich öffentlich über die Flüchtlinge äußern. Hierin manifestieren sich der Universalismus der Menschenrechte und damit letztlich auch ein politisches Selbstverständnis, das ich nicht nur der Idee einer deutschen Staatsbürgernation zurechnen würde, sondern, weit darüber hinausgehend, einer Idee von Europa als einer offenen Nation von Nationalitäten.

    Vom Standpunkt der Staatsbürgernation stellt die Fremdheit der Flüchtlinge keine ambivalente Differenz dar wie für die Kulturnation, die entweder durch Assimilation eingedeutscht oder ausgegrenzt werden müssen, und die Fremdheit der Flüchtlinge stellt auch keine unüberwindbare Differenz dar wie für die deutsche Volksnation, die die Flüchtlinge aggressiv abschieben will, um sich ihrer Fremdheit entledigen zu können, die sie nicht auszuhalten vermag. Vielmehr stellt die Fremdheit der Flüchtlinge für die Staatsbürgernation ein durch rechtliche Regelungen und Verfahren lösbares Problem dar. Diese Lösungen können restriktiver oder offener ausfallen. Prinzipiell können vom Standpunkt der Staatsbürgernation aus gesehen, aus fremden Flüchtlingen deutsche Staatsbürger werden, ohne dass für den Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft die völlige Assimilation und Aufhebung aller derjenigen Differenzen erforderlich wäre, die die Flüchtlinge zu Fremden machen. Auf dem Boden der Identitätsidee der Staatsbürgernation ist die Fremdheit der Flüchtlinge nur dort ein Problem, wo sie eine formalrechtliche Beantragung der deutschen Staatsbürgerschaft unmöglich machen. Ob die Flüchtlinge Hindus oder Moslems oder Anhänger von Animismus oder aber Atheisten sind, welche Hautfarbe sie haben oder welche Nahrungstabus sie befolgen, ist für den Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft unerheblich. Entscheidend ist, dass die Zugehörigkeit zur Staatsbürgernation grundsätzlich ein Problem der gesellschaftlichen Diskussion und Aushandlung, der politischen Willens- und Kompromissbildung und der gesetzlichen Regulierung und juristischen Verfahrensweisen ist. Und insofern können sich aus der Idee der Deutschen als einer Staatsbürgernation Fremdenfreundlichkeit und Willkommenskultur und keine ambivalente Haltung und auch keine aggressive Fremdenfeindlichkeit ergeben wie sie die Idee der Kulturnation und der Volksnation nahelegen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!

Autor
Prof. Dr. Richard Utz
Hochschule Mannheim
Fakultät für Sozialwesen
http://utzr.twoday.net/

Der Vortrag wurde im Rahmen der Fachtagung „Soziale Arbeit mit Flüchtlingen“ der Fakultät für Sozialwesen der Hochschule Mannheim am 20.10.2015 gehalten.


[1] „Interessen (materielle und ideelle) nicht Ideen, beherrschen unmittelbar das Handeln der Menschen. Aber: die >Weltbilder<, welche durch >Ideen< geschaffen wurden, haben sehr oft als Weichensteller die Bahnen bestimmt, in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte. …“ (RS I, 252)

[2] Habsburger saßen auf dem Österreichischen, aber auch auf dem Spanischen und Mexikanischen Thron, auf Habsburgischem Territorium lebten Ungarn, Serben, Rumänen, Bulgaren, Kroaten, Montenegriner mit Deutschen und Österreichern zusammen. Im Russischen Imperium der Zaren lebten Georgier, Armenier, Kasachen, Sibirer, Tartaren und noch viele andere Völker, desgleichen im Osmanischen Reich, wo Muslime mit Juden und Christen zusammenlebten, ohne dass dies die Identität dieser dynastisch regierten Monarchien im vorbürgerlichen Zeitalter hätte tangieren können. 

[3] Die Nation ist seither die Konstruktionsidee, die die Einheit der Bevölkerung im demokratischen Nationalstaat produziert, und zwar nicht nur in Europa, sondern weltweit Durch diese Verbindung der politischen Idee der „Nation“ mit der Organisationsform des „Staates“ wird diese politische Identitätsidee in Europa geschichtsmächtig und handlungswirksam. Damit war eine wichtige Weiche in der poltischen Entwicklung Europas gestellt: Das state building war mit dem nation buildung verschweißt und die als Einheit gedachte Nation war zum Souverän, also zur höchsten und letzten Quelle der politischen Legitimität und begründet die politische Identität die Demokratien existenziell bis heute.

[4] Diese Vorbemerkungen waren insofern wichtig, als sie Ihnen eine Vorstellung davon geben sollten, was eigentlich mit „Nation“ gemeint ist, nämlich eine politische Idee, mit deren Hilfe die nationalistischen Bewegungen und Nationalstaaten des 19ten, des 20ten und auch des 21ten Jahrhunderts ihren Wunsch nach Eigenstaatlichkeit begründen, wie es aktuell in Spanien die Katalanen und letztes Jahr die Schotten getan haben und wie es seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion die baltischen und kaukasischen Staaten, wie es Polen, Tschechien, Slowakei, Ukraine und Weißrussland getan haben, um nur einige zu nennen.

[5] Machen wir uns kurz klar, was Fremdsein soziologisch ist. Hier ist Fremdheit Resultat von Interaktion, ein Etikett, das in Wechselwirkungen zugeschrieben wird. Fremdheit entsteht immer dann, wenn die Partner in einer Interaktion Differenzen aneinander wahrnehmen, die sie als Abweichung von dem deuten, was sie bewusst oder unbewusst als ihr Eigenes, also das für sie Charakteristische halten. Diese Abweichung vom vermeintlich Eigenen markiert das Fremde der Anderen oder begründet die Zuschreibung der Fremdheit auf diesen Anderen. Das, was für die Deutschen normal und selbstverständlich erscheint, begründet das Eigene, und das, was davon abweicht, das Fremde.  Übertragen auf die Situation der Deutschen und der Flüchtlinge stellt sich dann die Frage: Was ist dieses jeweils Eigene im Kontext der politischen Identität und wie werden Abweichungen von diesem Eigenen gewertet, die die Zuschreibung des Fremden begründen?

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