Strafe – Vergeltung oder Vergebung?

von Dr. Jos Schnurer
21.02.2016

Collage, zusammengestellt von Dr. Jos Schnurer
Bild anklicken zum Vergrößern

Im Wörterbuch wird der Begriff Strafe als zur Abgeltung eines begangenen Unrechts einem Täter auferlegte Buße erklärt. In der aristotelischen Philosophie wird hamartia, eine Verfehlung und schlechte Handlung, im Gegensatz zu adikêmata, als ungerechte Tat, weniger als moralisch schlechte Handlung, sondern eher als Irrtum verstanden, der sich durch die Handlungsumstände ergibt: Während sich der Tugendhafte in bezug auf seine Leidenschaften richtig verhält, ‚verfehlt‘ der Schlechte das angemessene Verhalten“ [1]. In diesen verschiedenen Auffassungen vom tätigen Guten und Bösen zeigen sich im anthropologischen Denken und Handeln die Unterschiede, wie wir sie in den Konsequenzen „Vergeltung oder Vergebung“ bei der Bemessung von Strafe verstehen. In der rechtlichen Handhabung einer Strafverfügung gilt, etwa bei einer Gerichtsverhandlung, die Strafprozessordnung, in der geregelt wird, wie bei einer Aburteilung im Einzelfall verfahren werden muss, um eine Strafe im Sinne des geltenden Strafrechts aussprechen oder nicht erlassen zu können. In der Rechtsphilosophie geht es um Fragen der Geltung, Begründung und des Funktionierens der Rechtssphäre. Dabei geht es im wesentlichen um drei Zugänge: Zum einen um die Vergeltungstheorie als Sühne, Abgeltung oder Ausgleich für begangenes Unrecht; zum zweiten um Generalprävention als an die Allgemeinheit gerichtete Abschreckung; und zum dritten als Individualprävention und damit als Verbesserungsmaßnahme und Verwahrung der Unverbesserlichen zum Schutz der Allgemeinheit. Rechtsauffassungen als Norm- und Wertevorstellungen entstehen als kulturelle Identitätsbildung und einem Bewusstsein, dass, wie es Aristoteles in seiner Bestimmung des zôon politikon, des Menschen als politisches Lebewesen ausgedrückt hat, dass eine Haltung oder Handlung „so ist, wie es im Sinne einer allgemeinen Norm sein soll“ [2]. Deutlich kommt diese Vorstellung in der „globalen Ethik“ zum Ausdruck, wie sie in der von den Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte proklamiert wurde, dass nämlich „die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet“ und die Durchsetzung der Menschenrechte durch die Herrschaft des Rechtes zu  schützen sei [3]. Das Bild vom aufrechten Gang zeigt am deutlichsten die symbolhafte Vorstellung von Recht und Unrecht im menschlichen Zusammenleben [4]. Im religiösen Denken zeigen sich Werte- und Normauffassungen, die oftmals von diesen rechtsphilosophischen Prinzipien abweichen und durch alleinverbindliche Rechtssetzungen abgelöst werden; etwa mit der Rechtsvorstellung „Aug‘ um Auge, Zahn um Zahn“, als Vergeltungsanspruch; oder mit (falsch verstandenen und fundamentalistisch ausgelegten) islamistischen Forderungen nach Weltgeltung für die Scharia [5].

Die Verbrückung von psychologischen, pädagogischen und soziologischen Aspekten

Humanistische Bildung als „Selbst-Bildung“ wird in exemplarischer Weise von dem großen alten Mann der Psychologie und Psychoanalyse, Erich Fromm (1900 – 1980) aufgezeigt: „Der von der Natur losgerissene (mit Vernunft und Vorstellungsvermögen ausgestattete) Mensch… muss sich eine Vorstellung von sich selbst formen, muss sagen und fühlen können: Ich bin ich“. In einer Bestandsaufnahme von der Wirklichkeit des Menschseins in der globalisierten Welt sann er danach, wie eine sich immer mehr ausbreitende „Habenmentalität“ abgelöst werden könne durch einen „Seinsmodus“, in dem der Mensch sich selbst wiederfinden und leben könne. Weil Bildung und Erziehung immer den Zusammenhang von Erziehung, gesellschaftlicher Wirklichkeit und Überlieferung spiegelt, kommt der alten, aber immer wieder neuen und aktuellen Frage nach Erziehen und/oder Wachsen lassen (Theodor Litt) eine unübersehbare und nicht zu ignorierende Bedeutung zu: „Ziel der Erziehung ist der Mensch, der sich in seiner Besonderheit und Gesondertheit auch in den anderen erkennt und liebt, im Du spiegelt und als universaler Mensch gattungsgemäße Identität findet“ [6].

Demokratiebewusstsein

In der abendländischen Anthropologie und Lebenslehre wird der Mensch als zôon politikon, als politisches Lebewesen ausgewiesen, weil er mit Vernunft ausgestattet ist, nach einem guten, gelingenden Leben strebt, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden vermag und nicht ohne die Mitmenschen existieren kann. Damit haben wir schon das Gerüst für Demokratie vor Augen. Eine Gesellschaft, die auf demokratischen Prinzipien aufbaut und funktioniert, muss also ein Interesse daran haben, diese Grundlagen im individuellen und kollektiven Leben der Menschen wirksam werden zu lassen. In der Bildung und Erziehung kommt demnach der Entwicklung hin zu Demokratiebewusstsein und der -kompetenz eine entscheidende Aufgabe zu, und zwar von Anfang an, beginnend in der Familie, im Kindergarten und in der Schule, bis hin zum lebenslangen Lernen in der Erwachsenenbildung. Dass dies eine allumfassende, ganzheitliche Aufgabe darstellt, versteht sich eigentlich von selbst. Das Göttinger Institut für Demokratieforschung weiß sich der Erkenntnis verpflichtet, dass demokratisch lernen und leben als eine anzustrebende, gute Lebensform bewusst gemacht werden muss, und zwar sowohl mit den Mitteln der theoretischen Forschung, als auch als praktische Umsetzung. Mit dem Forschungsprojekt „Kinderdemokratie“ wurden Vorstellungen von (Grundschul-)Kindern über Demokratie erkundet und analysiert. Es zeigte sich, dass die Kinder demokratisches Denken und Handeln verbinden mit dem alltäglichen und gesellschaftlichen Selbstzutrauen, einer Frustrationstoleranz und den Partizipationsmöglichkeiten, die sie erfahren und erproben können. Die Ergebnisse sind eindeutig: Wenn Demokratie eine wünschenswerte, humane, für menschliche Existenz und ein gutes Leben bestimmende und passende Lebensform ist und gelebt werden kann, muss dieses Bewusstsein ganz früh in die Köpfe und Herzen der Menschen gebracht werden. Demokratielernen ist demnach eine wichtige, das Humane im Menschen befördernde Aufgabe. Dabei gilt es zu vermitteln, dass Demokratie als Existenzweise weder vom Himmel fällt, noch in die Gene gepflanzt wird, sondern erworben, gelernt und erfahren werden muss [7].

Sind Emotionen politisch?

Emotionen sind nicht nur Affekte und Gemütsbewegungen, sondern sollen bestimmt werden von Einschätzungen und Bewertungen. Diese Zuschreibung berührt die ganze Tragweite des philosophischen Nachdenkens über Rationalität und Emotionalität. In der griechischen Philosophie wird „pathos“ als Widerfahrnis und Affekt bezeichnet, „was einem widerfährt“ und „was man erleidet“, also als negative und positive Vorgänge, wie etwa Begierde, Zorn, Furcht, Mut, Neid, Freude, Zuneigung, Hass, Sehnsucht Eifersucht und Mitleid benannt, oder als Affekte, Sanftmut, Scham, Freundlichkeit als Tugenden und Verhaltensweisen bezeichnet. Eine besondere Herausforderung beim philosophischen Denken über alle Zeiten hinweg gilt der Frage, ob und ggf. wie Affekte, die sich als Gemütsbewegungen darstellen, durch die Vernunft steuer- und beherrschbar sind. Im abendländischen Denken erhält dabei die Emotion einen eher negativen Beigeschmack, mit der Herausforderung, emotionales Verhalten dem rationalen Denken unterzuordnen [8]; im Vergleich mit anderen kulturellen und philosophischen Identitäten [9].  Die Herausforderungen werden deutlich. Wenn Emotionen mehr sein sollen als nicht steuerbare und nichtbeeinflussbare Gemütsbewegungen, die Willkür, Macht, Gewalt und momentane Verhaltensweisen hervorbringen und damit ein gerechtes, friedliches und gedeihliches Zusammenleben der Menschen auf der Erde unmöglich machen, bedarf es neuer Stellschrauben, Denk- und Verhaltensmodelle; insbesondere in den Zeiten der sich immer interdependenter, entgrenzter und globaler entwickelnden (Einen?) Welt. Die Philosophin Martha C. Nussbaum weist in ihrer Analyse zur Geschichte und Entwicklung des emotionalen Denkens und Handelns der Menschen darauf hin, dass die Fehleinschätzungen und das überwiegend einseitige Verständnis der Eigenschaft ein Problem des in der Anthropologie entwickelten Umgangs mit „Liberalismus“ sei. Sie fordert, „dass Frauen und Männer so genommen werden, wie sie sind, anstatt alles Unvollkommene mit Hass zu verfolgen“. Um gleich missverständliche Vermutungen zu widerlegen, stellt die Autorin in ihrer kritischen Bestandsaufnahme fest, dass zwar die Theorie der politischen Emotionen von bestimmten normativen Festlegungen ausgehe, die Prinzipien aber nicht begründe, sondern danach frage, wie sie durch Emotionen stabilisiert, nicht behindert werden können. Ihr Credo: Gerechtigkeit braucht Liebe! Stabilität ist ohne ein emotionales Engagement nicht möglich! Das Streben nach Gerechtigkeit geht mit Unvollkommenheit einher! [10].

„Der Andere könnte ich selber sein“,

so hat der zweifache Oskar-Preisträger und UNICEF-Botschafter Sir Peter Ustinov in seinen Lebenserinnerungen 2003 für Toleranz und Respekt gegenüber anderen Menschen plädiert. Vorurteile sind Denk- und Verhaltensweisen, die sich in Ablehnung, Antipathie, Diskriminierung, Stigmatisierung, Fremdenfeindlichkeit oder rassistischer Haltung gegenüber Individuen und Gemeinschaften zeigen. Diese von Gordon W. Allport formulierte Begriffsbestimmung ordnet Vorurteile und Stereotypenbildung als negative Einstellungen ein, die es zu erkennen und zu revidieren gilt. Die 1999 gebildete Sir Peter Ustinov-Stiftung und die daraus entstandenen Forschungsinstitute und Kinder- und Jugendprojekte engagieren sich in vielfältiger Weise dafür, in der schulischen Bildung und in der wissenschaftlichen Forschung Rassismen, Fremdenfeindlichkeit, Ethisierungen und allen Formen von Diskriminierung den Kampf anzusagen und beizutragen, dass Vorurteile erkannt, ihre Entstehung analysiert und ihre Überwindung gefördert wird. Dabei geht es nicht darum, das Vorurteil per se zu verdammen oder gar ausmerzen zu wollen; vielmehr kommt es darauf an zu erkennen, dass „es Vorurteile und Vorurteile gibt“ und die komplexe Typologie von Vorurteilen und Stereotypen zu verdeutlichen; denn „Vorurteile sind das Produkt einer bestehenden Gesellschaft“. Sie werden also weder in die Gene noch in die Wiege gelegt. Damit wird gleichzeitig deutlich, dass es Aufgabe eines jeden Menscen ist, sich der negativen Ausprägungen von Vorurteilsbildungen bewusst zu sein. Die wissenschaftliche Vorurteilsforschung liefert Hinweise dafür, dass es nicht darauf ankommt, Vorurteile zu negieren oder aus der Welt schaffen zu wollen, sondern „Wege zu finden, mit Vorurteilen umzugehen, sie zu reduzieren und ihre explosiven, ihre mörderischen Potentiale zu kontrollieren“ [11].

Selbstachtung ist die Kunst des aufrechten Gangs

Zur Selbstachtung gehören immer mindestens zwei: Du und Ich! Damit ist schon ausgedrückt, dass die Eigenschaft, die eigene Menschenwürde zu erkennen, zu besitzen und in Anspruch zu nehmen, immer verbunden sein muss mit der Haltung, die andere Individuen und Gesellschaften mir entgegen bringen und ermöglichen. Alle Philosophen haben zu allen Zeiten das „Selbst“ als einen Wert an sich definiert. Seit der Frage Platons, was etwas in Wahrheit und Wirklichkeit ist (tí poté estín), wird die Suche nach der eigenen Identität und dem Sosein des Menschen in immer neuen Variationen und Denkkonstrukten bedacht und benannt. Selbstachtung hat also etwas zu tun mit dem individuellen Selbst- und Lebenswert und den kulturellen Identitäten der Menschen insgesamt, und dem Selbstbewusstsein, das stetig und mühsam entwickelt, erarbeitet und verteidigt werden muss. Im philosophischen und wissenschaftlichen Denken hat Selbstachtung selbst referentielle und selbst steuernde Bedeutung, die die Selbst- und Fremdbeobachtung bedingt. Es ist hilfreich, will man sich des eigenen Selbstwertgefühls versichern, der biologischen, anthropologischen und gesellschaftlichen wie persönlichen Voraussetzungen für Selbstachtung bewusst zu werden. Denn falsch verstandene, ideologisch gesetzte und historisch entstandene Formen von (so genannter) Selbstachtung können leicht zu negativen Ausprägungen, wie Egoismus, Überheblichkeit, Selbstüberschätzung und Höherwertigkeitsvorstellungen gerinnen. Am besten beginnt man dabei mit den individuellen, alltäglichen Erfahrungen, und greift aus auf die lokalen und globalen gesellschaftlichen und politischen Bedingungen in der Welt. Weil der grundsätzlich selbstverständlich erscheinende kategorische Imperativ – dass, wie es im Volksmund heißt, was du nicht willst, dass man dir tu´, das füg´ auch keinen andern zu – nicht selbstverständlich ist, sondern in der Familie, Schule, Beruf und Alltagsleben erworben werden muss, bedarf es der Bildung zur Selbstachtung. Das Bild vom aufrechten Gang ist ein gutes und passendes Zeichen für die Bedeutung, die Selbstachtung im individuellen und kollektiven Leben der Menschen hat [12].

Was brauchen Menschen?

Viel zu oft wird bei der Darstellung von anscheinend urwüchsigen und zweifelsfreien Gewissheiten vergessen – oder geflissentlich übergangen – was im Bildungs- und Erziehungsprozess eigentlich selbstverständlich sein sollte, dass nämlich Heran- und Hineinwachsen in die menschliche Gemeinschaft immer von individuellen und dualen Bedingungen [13], und von der Umwelt abhängt, die Menschen für sich und ihre Nachkommen schaffen. Die Frage, was Kinder brauchen, ist eigentlich leicht zu beantworten, und doch nicht leicht zu verwirklichen: Sichere Bindung schaffen - Eine andere Kindheit ermöglichen. - Gemeinschaftsgefühl aufbauen. – Einen freiheitlichen Spiel-(Lebens-)raum anbieten. - Für eine Lebenswelt im Gleichgewicht sorgen. Unverzichtbar ist in dem Zusammenhang natürlich die Frage, wie viel Freiheit, wie viele Grenzen es in diesem Bildungs- und Erziehungsprozess es geben  soll. Die in zahlreichen Ratgebern apodiktisch benannten Grenzziehungen wirken ohne funktionierende, ehrliche und vertrauensvolle Beziehungen (was ja keinesfalls konfliktfreie bedeutet) und ohne den lebensweltlichen Bezug im Erziehungsprozess nicht. Herbert Renz-Polster nimmt in seinem Plädoyer für eine artgerechte Erziehung die Metaphern „Leben neu denken“ (Weltkommission „Kultur und Entwicklung“) und „Schule neu denken“ (Hartmut von Hentig) auf mit der Erkenntnis: „Erziehung ist kein Naturprodukt, sie ist eine permanente Neuerfindung“ [14].

Ohne Angst verschieden sein

Menschliche Erwartungshaltungen und Perspektiven gründen entweder auf den pessimistischen, naturrechtlichen Auffassungen, dass der Mensch des Menschen Wolf sei (Titus Maccius Plautus / Thomas Hobbes), oder darauf, dass er ein zôon politikon, ein politisches Lebewesen sei, das mit Verstand und dem Willen zu einem „guten Leben“ ausgestattet und darauf angewiesen ist, in Gemeinschaft mit Menschen zu leben (Aristoteles). Die Fragen, die sich zu den jeweiligen Positionen stellen, orientieren sich dabei in gleicher Weise daran, wie die Verschiedenheiten der Menschen betrachtet und philosophisch und praktisch ausgelegt werden. Immerhin dürfte sich in der Zwischenzeit durchgesetzt haben, dass die Vielfalt, die sich in den menschlichen Existenzen auf der Erde zeigt, ein wesentliches Gut der gemeinsamen menschlichen Familie ist. Mit der Forderung, „Gleichheit in der Differenz – Differenz in der Gleichheit“ in den Bildungs- und Erziehungsprozessen zu verwirklichen, sollten (eigentlich) die Kontroversen um Geschlechter(un-)gleichheiten erledigt und durch ein Bewusstsein von eindeutiger, nicht relativierbarer Gleichberechtigung abgelöst worden sein [15]. Die aktuellen Zustände in der Welt aber machen deutlich, dass diese Forderungen heute notwendiger denn je gestellt werden müssen [16].

„Der Stellenwert der Gerechtigkeit ist in Deutschland und Europa von größter Bedeutung und elementar für den sozialen Zusammenhalt)“;

diese Auffassung wird nicht nur vom Institut der Deutschen Wirtschaft vertreten, sondern ist mittlerweile Allgemeingut im gesellschaftlichen Diskurs. Die Analyse, dass insbesondere im Bildungsbereich der Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungsgerechtigkeit eine Schieflage hat - „Es ist mittlerweile eine weithin anerkannte Tatsache, dass es für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen eine entscheidende Rolle spielt, in welchem Anregungsmilieu sie aufwachsen, welche Sozialisationsfaktoren auf sie einwirken und welche Stimulation sie durch ihr Umfeld erfahren“ –  wird nicht unwesentlich davon beeinflusst, wie Leistung in der Gesellschaft festgestellt und gemessen wird. Die Frage, wie sich Bildungs- und damit Lebenserfolg und soziale Herkunft entkoppeln lassen, wird in der Gesellschaft zwar mittlerweile intensiver unter den Aspekten der Veränderung der traditionellen Bildungssysteme geführt, aber zu wenig mit Blick auf Chancen- und Bildungsgerechtigkeit.Denn Bildungsgerechtigkeit ist nicht dadurch zu erreichen, dass „alles so bleibt wie es ist“; vielmehr bedarf es des Perspektivenwechsels hin zu der Erkenntnis, dass Vielfalt Chancengleichheit schafft, nicht (Aus-)Sortierung [17]

Individualität und Kollektivität

Im philosophischen und gesellschaftswissenschaftlichen und -kritischen Denken wird die Spannweite zwischen distributiven und kollektiven Einstellungen immer wieder kontrovers diskutiert. Während erstere Haltung, abgeleitet vom lateinischen distributive – jedem Einzelnen für sich – der individualisierte und eher egoistische Gedanke zugrunde liegt, wird „collective“ verstanden als „alle zusammen genommen“. Ein Kollektivbewusstsein wird demnach bestimmt, gehen wir auf die aristotelische Interpretation ein, von der „politeia“, die eine rechtlich-soziale, ökonomische und sittliche Ordnung in einem Gemeinwesen ermöglicht. Diese Sichtweise provoziert gleichsam eine Reihe von Fragen zur Beziehungshaftigkeit des Subjekts: „Inwiefern lässt sich das Eingewobensein in soziale Bezüge in einem stärkeren Sinn als Form kollektiver Bindung verstehen? – Um welche Art von Kollektiven handelt es sich dabei? Und nicht zuletzt: Welche Verantwortlichkeiten für ein gutes, gelingendes und friedliches Zusammenleben für die Menschen lokal und global ergeben sich daraus? Diese Fragen stellten sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den interdisziplinären Bereichen der Politischen Theorie, der Politischen Philosophie, der Sozialtheorie, der Rechtstheorie, der Soziologie, der Literatur- und Kulturwissenschaft, der Erziehungs- und Religionswissenschaften. Sie kamen vom 28. bis 30. Juni 2012 am Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien der Humboldt-Universität zu Berlin zusammen, um sich im wissenschaftlichen Diskurs damit auseinander zu setzen, wie „sich Gemeinschaften denken lassen und wie Kollektivität vorgestellt werden kann, wenn die scheinbar zentrale Kategorie zur Vergemeinschaftung, die Kategorie der Identität, zum kritischen Projekt geworden ist“. Kritisches wissenschaftliches Arbeiten ist dadurch bestimmt, dass es den Blick und das Bewusstsein weitet, wie sich gesellschaftliche und politische Entwicklungen vollziehen, mit dem Ziel, Veränderungen hin zu einem guten, gelingenden Leben für alle Menschen in der jeweiligen Gesellschaft und weltweit mit bewirken zu helfen. Die vielfältigen, interdisziplinären, auch kontroversen Zugänge zu Fragen und Entwicklungen im wissenschaftlichen Kollektivitätsdiskurs nehmen die Tatsache auf, dass Formen von Kollektivität in nahezu allen Lebenslagen und gesellschaftlichen Bezügen der Menschen wirksam sind. Die Frage, „wie sich Gemeinschaften denken lassen und wie Kollektivität vorgestellt werden kann, wenn die scheinbar zentrale Kategorie zur Vergemeinschaftung, die Kategorie der Identität, zum kritischen Projekt geworden ist“, lässt sich weder als Ordre Mufti, noch als Ideologie beantworten. Mögliche Antworten und Lösungsansätze ergeben sich jedoch im interdisziplinären Dialog [18].

Macht und Machtmissbrauch

Kapitalismus- und Neoliberalismuskritik gilt in der globalisierten, scheinbar „Alles-Machbar-Welt“ als Kontrapunkt und, je nach Mentalität, politischem Bewusstsein und Ideologie, als wehrhafte bis machtbewusste Alternative: Eine bessere, humane und soziale Welt ist möglich! Es ist immer die Frage, wie Macht entsteht und Ohnmacht wird, und wie Macht legitim ausgeübt und Machtmissbrauch benannt und verhindert werden kann In der wissenschaftlichen Macht- und Herrschaftsstrukturforschung hat (zumindest) in den US-amerikanischen Sozialwissenschaften ihren Platz. Eine neue Fragestellung allerdings tut sich auf in der sich immer interdependenter, entgrenzender und die Gesellschaften auseinander dividierenden Entwicklung der Globalisierung auf. Der humane Skandal, dass die Reichen immer reicher und die Habenichtse immer ärmer werden, erfordert einen Perspektivenwechsel, der weg führen muss von dem bequemen und ökonomisch und politisch gewachsenen Mentalitäten, dass „die da oben“ es schon richten werden und den eher ohnmächtigen Erfahrungen, man könne als Einzelner dagegen „sowieso nichts machen“. In diesem Zusammenhang ist es berechtigt, von einer „Graswurzelbewegung“ zu sprechen, die ausgeht von den Initiativen Einzelner und hinführt zu einer gesellschaftlichen Aufmerksamkeit, die der ehemalige Schweizer Top-Manager und spätere Umwelt- und Menschenrechtsaktivist Hans A. Pestalozzi (1929 – 2004) als „positive Subversion“ bezeichnet und mit dem eingängigen, herausfordernden Spruch belegt hat: Wo kämen wir hin / wenn alle sagten / wo kämen wir hin / und niemand ginge / um einmal zu schauen / wohin man käme / wenn man ginge [19]. Der Soziologe Hans-Jürgen Krysmanski (1935) lehrte an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster. Er hat sich immer schon eingesetzt für die lokale und globale Verwirklichung der sozialen Gerechtigkeit und für Frieden in der Welt. Er war von 1976 bis 1991 Mitglied des Präsidiums des Weltfriedensrats und des Steering Committee der World Federation of Scientific Workers, gehört dem Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an, engagiert sich als Wissenschaftlicher Beirats bei Attac und der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Mit zahlreichen Expertisen, Auftrags- und Forschungsarbeiten meldet sich Krysmanski immer wieder zu Wort; nicht aus dem elitären und geschützten Elfenbeinturm heraus, sondern als beobachtender Zeitgenosse und engagierter Veränderer „auf den Straßen und Plätzen der Welt“. Er setzt sich auseinander mit den Praktiken der Macht- und Geldeliten in der Welt. Dabei geht es ihm zum einen darum, eine (deutsche) soziologische Aufmerksamkeit auf die in den USA seit einigen Jahren aktive Bewegung der „Power Structure Research“ zu lenken; zum anderen Mut zu machen, „wie kollektive investigative Forschung von unten – grassroots research – in Gang kommen kann“. Angesichts der kapitalistischen Entwicklungen sei „aus den Resten einer bürgerlichen Gesellschaft, die sich zivilgesellschaftlich zurechtgestutzt hat, … eine reale und doch von Derivaten abgeleitete Aktien-Gesellschaft geworden“. Aus der „aufgeplusterte(n ) Elitemacht, die sich zu globaler Imperialität aufschwingen wollte…, ist ein zerfallendes Feudalreich schein-souveräner Superreicher und ‚Vermögender‘ geworden“, die, nach Meinung des Autors, nur noch ein, zwei Krisen überleben könne, und das auch nur, weil es die Profiteure der Elitemacht „über Gebühr mit Boni aller Art überhäuft“. So lassen sich die in verschiedenen Zusammenhängen entstandenen Texte und Analysen als „Abgesang“ der „heutigen kapitalismusbasierten High-Tech-Refeudalisierung“ lesen, die den Blick ...auf „do-it-yourself Power Structure Research“ lenkt [20]

Gehorsamkeit ist die Unterwerfung des eigenen Willens unter den eines anderen

Die Wortbedeutung „Gehorsam“ unterliegt gesellschaftlichen, kulturellen und ideologischen Bedingungen, wie sich dies in Sprichwörtern, Volksliedern, politischen Programmen, in Theaterstücken und in der Literatur ausdrückt. Da wird „militärischer Gehorsam“ vom Soldaten gefordert; das Kind soll den Eltern gehorchen; die Gläubigen von Religionsgemeinschaften sollen die religiösen Gebote befolgen;; von „Gehorsamspflicht“ wird gesprochen, wenn es darum geht, die Gesetze einzuhalten, die für ein Gemeinschaftsleben notwendig sind; und „Kadavergehorsam“ wird bezeichnet, wenn jemand seinen eigenen Verstand und seine Kritikfähigkeit an Regeln abgibt, die andere Autoritäten aufstellen und einfordern. Die Auseinandersetzung mit dem Begriff und die Einstellung muss also differenziert geführt werden. Wenn wir uns darauf festlegen, dass unser anthropologisches Verständnis von Demokratie, Selbstbestimmung und freiheitlichem Denken und Handeln Grundlage unserer individuellen und gesellschaftlichen Identität ist, und wir mit unserer Vernunftbegabung fähig sind, Anpassung und Widerstand als eigene und gesellschaftliche, kritische Verantwortung zu erkennen, sollte es möglich sein, anarchistische und nihilistische Ablehnung von gesellschaftlich definierten und akzeptierten Werten und Normen zu unterscheiden und Formen von „blindem“, ideologisch und machtpolitisch bestimmtem Gehorsam zu erkennen. Es geht darum, die eigene Denkanstrengung einzuüben und Verhaltensweisen und Festlegungen im menschlichen Miteinander als ganzheitliche Entwicklungen zu begreifen: „Eine bessere Welt wird sichtbar, wenn der verblendete Gehorsam aufgebrochen wird und sich in echte zwischenmenschliche Empathie verwandelt“ [21].

„Und bist du nicht willig, so brauch‘ ich Gewalt“

Zivilcourage ist eine natürliche Sache der Welt; und Menschen sind fähig, sozialen Mut zu zeigen und zu leben. Diese Botschaft gilt es zu verbreiten und in die Köpfe und Herzen der Menschen zu bringen, denkend, trainierend, erprobend und erfahrend. Deshalb ist die Vermittlung der Kompetenz Zivilcourage eine alltägliche, individuelle und gesellschaftliche Herausforderung, die es anzunehmen gilt in einer empathischen Zivilisation [22]. In der Goetheschen Ballade vom Erlkönig wird ein Lösungsansatz angedroht: „Und bist du nicht willig, so brauch‘ ich Gewalt“. Allzu oft, unbedacht und gewohnt ist physische und psychische Gewalt als Mittel der Durchsetzung von eigenen Meinungen und Mentalitäten an der Tagesordnung – und vorbedachtes, präventives und duldsames Verhalten wird eher als Schwäche ausgelegt. Immerhin: Die Diskussion darüber, wie den Gewalttätigkeiten und der offensichtlichen Gewaltbereitschaft von Einzelnen und Gruppen in unserem öffentlichen, gesellschaftlichen Leben, in Schulen, Betrieben, Lokalen, Familien und auf der Straße, entgegen gewirkt werden kann, ist im Gange. Politikeraufrufe, Empfehlungen von Psychologen, Soziologen, Polizei und Pädagogen füllen die Seiten der Zeitungen, die Zeiten der Medien und den Buchmarkt. Die Vorschläge reichen von „Budo“, als Methode der Gewaltprävention, bis zu Rat„schlägen“ zum Wegsperren. Bei diesen Aufgeregtheiten und Bestimmtheiten ist es gut, sich eines Begriffs zu erinnern, der sich als „Zivilcourage“ in den gesellschaftlichen und politischen Diskurs etabliert hat, als „öffentliches Handeln im Alltag, als sozialer Mut in der Lebenswelt der Bürger, als Element der Zivilgesellschaft“ [23]. Wenn die drei Handlungskompetenzen von Zivilcourage – Eingreifen, sich Einsetzen, sich Wehren – nicht nur theoretische Bestimmungen bleiben, sondern in der Praxis des gesellschaftlichen Zusammenlebens bei allen Gelegenheiten und an allen Orten wirksam werden sollen, bedarf es in der Theorie und Praxis eines Zusammenwirkens von pädagogischen, psychologischen, soziologischen und politischen Aspekten, die sich wissenschaftlich und im Bildungs- und Erziehungshandeln in der Psychologie, den Gender Studies, der Pädagogik / Sozialpädagogik, Politikwissenschaft, Soziologie, Friedens- und Konfliktforschung, Geschichtswissenschaft, Philosophie, Theologie, Rechtswissenschaft und Wirtschaftsethik darstellen. Die Praxisbezüge finden sich in der pädagogisch orientierten Intervention des Unterrichts und der politischen Bildung, in bürgerschaftlichem Engagement und in der Kriminal- und Gewaltprävention. [24]

Die Komplexität des Vertrauens

Es ist ein Zauberwort, das eingesetzt wird, wenn scheinbar Gespräche, Situationen und Verhaltensweisen aus dem Ruder zu laufen drohen, wenn Konflikte Kommunikationen erschweren oder gar unmöglich machen. „Vertrauen haben“, als ethische und moralische Charaktereigenschaft hat deshalb im philosophischen, gesellschaftlichen und individuell-alltäglichen Denken und Handeln einen hohen Stellenwert. Der Mensch, so eine biologische Interpretation, entwickelt von sich aus ein Grundvertrauen, insbesondere wenn es um Beziehungen zu anderen Menschen, um Kontakte und Kommunikation geht. Damit Vertrauen aber mehr sein kann als die Abwesenheit von Misstrauen, bedarf es eines Sozialverhaltens, das auf den Grundlagen des Logos wie des Pathos (Aristoteles) beruht. Niklas Luhmann etwa geht davon aus, dass Vertrauen ein elementarer Tatbestand des sozialen Lebens ist. Vertrauen bedarf nicht nur des eigenen Willens und der Fähigkei, human zu leben, sondern auch die Bereitschaft des Gegenübers, Vertrauen entgegen zu nehmen und zu geben. Demnach ist die Frage danach, was Vertrauen ist und sich auswirkt, nicht einfach damit zu beantworten, dass Vertrauensfähigkeit eine „weiche“ Einstellung und Verhaltensweise ist; vielmehr, das zeigen die vielfältigen Formen und Erfahrungen des Alltagslebens, dass Unvertrauen und Vertrauensverlust eng zusammenhängen mit den gesellschaftlichen und sozialen Bedingungen, wie mit den Werten, Normen, kulturellen und interkulturellen Identitäten des menschlichen Daseins. „Vertrauen ist ein Phänomen, das… Komplexität reduzieren kann und Kooperation erleichtert oder überhaupt erst möglich macht“ – diese Lesart steckt in den Gewissheiten, mit denen wir eine vertrauensvolle Einstellung verbinden und einfordern für alle individuellen, lokalen und globalen Lebensbedingungen der Menschen auf der Erde. Dass freilich diese Erwartungen sich nur schwer realisieren lassen, ist eine Binsenweisheit, die die Menschheitsgeschichte durchzieht und immer wieder auch in Frage stellt. Der Mensch als „Lamm“ oder „Wolf“, das bleibt weiterhin die Frage, genauso wie die Erkenntnis, „dass Vertrauen ein komplexes Phänomen ist“. Der Luzerner Philosoph Martin Hartmann geht dem Phänomen nach, indem er begrifflich, kulturell und historisch klärt, was Vertrauen ist, wie es entstehen und zerstört werden kann und in welchen Zusammenhängen Menschen sich vertrauenswürdig oder misstrauisch begegnen. Der Autor unternimmt dabei den Versuch zu erklären, dass „die Komplexität des Vertrauens… nicht darauf beruht, dass eine neue Komplexität freigesetzt wird, weil zuvor andere Komplexitäten reduziert werden konnten“; weil es „Gründe des Vertrauens und Gründe des Misstrauens“ gibt, die Interaktionsprozesse bei Menschen bestimmen, rational und emotional. Wenn nämlich Vertrauenseinstellungen moralisiert und als Sollens- und Forderungskataloge formuliert werden, ohne dabei die „härteren“ Variablen, wie etwa Macht, Einfluss und Konvention zu berücksichtigen, realisiert sich Vertrauen nur unzulänglich und versagt nicht selten bei den „raueren“ Wirklichkeiten des Lebens [25].

Anerkennung als humane, lebensweltliche und pädagogische Aufgabe

Bildung ist das höchste Gut, das Menschen vermittelt werden kann. Sie fällt nicht vom Himmel, kann jedoch in die Wiege gelegt und in der Gesellschaft ermöglicht werden – wenn die individuellen und gesellschaftlichen Voraussetzungen dafür gegeben sind! In der sich immer interdependenter und entgrenzender entwickelnden (Einen?) Welt kommt es darauf an, schulische und außerschulische Bildung zum Maßstab für Humanität und Aufklärung zu machen. Es gilt, die ego-, ethno- und eurozentrierten Begrenzungen und Mauern zu überwinden. Nicht die Einfalt, sondern die Vielfalt des menschlichen Daseins gilt es zu erkennen und zu leben.  „Maßgeblich für Schulentwicklung sind wertorientierte Ausrichtung an der Würde des Einzelnen, wertschätzender Umgang mit Diversität, wertvolle Strukturen demokratischer Beteiligung und menschengerechte Bildung“. Die vom Herausgeberteam im Vorwort des Tagungsbandes zum Kongress „Kultur der Anerkennung“ (Mai 2012) formulierten Markierungen kennzeichnen die schulischen und gesellschaftlichen Herausforderungen für eine Schule für alle. Die Vielfalt, die das Schulleben gestalten sollte, bei Beteiligung aller, spiegelt auch die Vielfalt der pädagogischen, lebensweltlichen und weltanschaulichen Beiträge der Referentinnen und Referenten des Kongresses und Colloquiums wider und verweist mit zahlreichen Beispielen und Erfahrungen darauf, dass Bildungs- und Erziehungsauffassungen, -Konzepte und –Methoden auf dem Bewusstsein aufbauen müssen: Ein humaner Umgang ist alles! [26].

„Wer ist der arabische Mann?“,

mit dieser merkwürdigen, aufreizenden und mit logischem Verstand nicht zu beantwortenden Frage reagieren Medien [27] und öffentliche Meinung auf die diskriminierenden, rassistischen und menschenfeindlichen Vorfälle während der Silvesternacht in Köln und anderswo. Da werden Analysen vorgestellt, wie sich das Geschlechterverhältnis in den verschiedenen Weltanschauungen darstellt, wie sich die Ungerechtigkeiten zwischen Mann und Frau im gesellschaftlichen Leben auswirken, dass „Mama die Macho-Macherin“ ist (Joumana Haddad); und es werden Auffassungen und Bekenntnisse öffentlich gemacht, etwa wenn der in Köln lebende und integrierte IT-Ingenieur und Rapper Abdulrahman Masri beklagt: „Diese Taten ruinieren unser Image und unsere Zukunft in diesem Land, das uns aufgenommen und so sehr geholfen hat“; oder wenn der in Berlin lebende und lehrende Islamwissenschaftler Iskandar Ahmad Abdalla feststellt: „Viele loben mich für meinen erfolgreichen Lebenslauf, meine weltoffene Haltung – obwohl ich Araber bin. Ich habe es satt, der ‚gute Araber‘ zu sein. Ich möchte nicht der lebende Beweis sein, dass Araber unter Umständen doch sympathisch sein können“. Nach dem poststrukturalistischen Subjektverständnis ist jede Situation von differenzierenden Bedeutungszusammenhängen umgeben, die sich je nach dem Kontext in unterschiedlichen Sinnzusammenhängen darstellen und in verbalen und nonverbalen Diskursen ausdrücken. Die dabei auftretenden Verständnisse und Missverständnisse, Übereinstimmungen und Konflikte zeigen sich nicht zuletzt bei den Selbst- und Fremdwahrnehmungen der Menschen; sie bilden also Identitätsmerkmale heraus, die im Menschenbild vom Anderen und Fremden sich entweder verankern oder sich konflikthaft darstellen. Wir sind bei der Frage nach dem Fremdenbild von ethnischen Mehrheitsgesellschaften und den dabei wirkenden Integrations- und Segregationsprozessen. Es sind notwendige, interkulturelle Auseinandersetzungen über kulturelle und mentale Einstellungen und Verhaltensweisen. Und es sind notwendige Auseinandersetzungen darüber, wie das höchste Gut der Menschen, die Menschenwürde, geachtet und selbstverständlich lokal und global gelebt werden kann [28]. Die an der Pädagogischen Hochschule in Schwäbisch-Gmünd tätige Erziehungswissenschaftlerin Gundula Müller greift mit ihrer Forschungsarbeit ein bisher im Migrationsdiskurs wenig thematisiertes Problem auf: Türkische Heiratsarrangements in Deutschland. Sie untersucht Subjektbildungsprozesse türkischer Migrantinnen, die per traditioneller Vermittlung verheiratet wurden. Sie analysiert an ausgewählten Fallbeispielen Familienkultur, Geschlechtsidentitäten, Vorstellungen von Ehe, religiöse, islamische Prägungen, Gewaltausübung und Bildungspositionen. Sie entwickelt dabei eine „postfeministische Methodologie“ und zeigt klassisch-patriarchale Geschlechterdichtotomien auf, die sich bei Heiratsarrangements feststellen lassen. Sie benutzt die Subjektbegriffe, wie sie von Michel Foucault und Judith Butler entwickelt wurden. Es wird deutlich, „dass die Analyse transkultureller Phänomene ein zu präzisierendes Diskursverständnis erfordert, welches wiederum ein bestimmtes Verständnis von diskursiven Formationen mit sich bringt“ [29].

Lösungsmöglichkeiten?

Wie kann man erklären, dass der zôon politikon (Aristoteles), das politische Lebewesen Mensch, in der abendländischen Philosophie einerseits als sprach- und vernunftbegabtes, am Göttlichen Anteil habendes und zu einem guten Leben befähigtes Geschöpf so hoch gelobt, und auf der anderen Seite das Politische im Leben der Menschen so missachtet wird? Dieser verflixten Frage sind Philosophen, Anthropologen, Politiker, Pädagogen…nachgegangen, seit Menschen denken können, und sie gehen ihr weiterhin nach; etwa mit der Forderung nach lebenslanger politischer Bildung. „Ist es Charakter, Wissen, Lernen, Erfahrung, Gewissen, was den Ausschlag für eine existentielle politische Entscheidung gibt?“. Mit dieser Frage wird gleichzeitig ein Missverständnis deutlich: Das politische Agieren eines Menschen zeigt sich nicht erst darin, dass er eine Haltung zeigt, die ihn in seiner physischen Existenz herausfordert, sondern in seiner Identität überhaupt. Politisches Denken und Handeln umfasst also sowohl Alltägliches wie Existentielles; denn: „Das Politische ist Grundzug der Persönlichkeitsbildung“. Der 1934 geborene, von 1970 bis 2002 an der Hannöverschen Universität tätige Soziologe und Philosoph, Oskar Negt, hat sich Zeit seines beruflichen, pädagogischen und politischen Engagements immer eingemischt hat, um ein euzôia, ein gutes Leben in den menschlichen, lokalen und globalen Gesellschaften mit gestalten zu helfen, argumentierend und provozierend. Sein Orientierungs- und Identitätsmuster benennt er dabei mit der Entwicklung von Kompetenzen:  Orientieren, Wissen, Lernen, Erfahren; und er stützt sich mit seiner Erinnerungsarbeit auf die Verwirklichung der Utopie , dass „die konkrete Verneinung der als unerträglich empfundenen gegenwärtigen Verhältnisse, mit der klaren Perspektive und der mutigen Entschlossenheit (bewirkt), das Gegebene zum Besseren zu wenden“ [30]. Mit dem durchaus subjektiven Blick auf ausgewählte wissenschaftliche Literatur zum Diskurs Recht, Unrecht, Humanität und Erziehung soll deutlich gemacht werden, welche Zusammenhänge und Imponderabilien zu beachten sind, wenn über die Frage nach „Strafe“ nachgedacht wird. Ziel ist, ein Bewusstsein zu wecken, dass „bestrafen“ nicht einfach die Ausübung eines legitimen wie illegitimen Erziehungsaktes ist, sondern sich in vielfältigen, positiven wie negativen Paradigmen zeigt und deshalb der menschlichen Vernunft und der Fähigkeit zur Gerechtigkeit und Empathie bedarf. Autor
Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
E-Mail Mailformular

[1] Ph. Brüllmann, in: Otfried Höffe, Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005, S. 240f

[2] R. Geiger, in: a.a.o., S. 406

[3] Deutsche UNESCO-Kommission, Menschenrechte. Internationale Dokumente, Bonn 1981, S. 48

[4] Kurt Bayertz, Der aufrechte Gang. Eine Geschichte des anthropologischen Denkens, 2013, zur Rezension

[5] Maxi Berger / Tobias Reichardt / Michael Städtler, Hrsg., „Der Geist geistloser Zustände“. Religionskritik und Gesellschaftstheorie, 2012, zur Rezension

[6] Burkhard Bierhoff, Kritisch-Humanistische Erziehung, 2012, zur Rezension

[7] Yvonne Blöcker / Nina Hölscher, Hrsg., Kinder und Demokratie. Zwischen Theorie und Praxis, 2014, zur Rezension

[8] Hellmut Flashar, Aristoteles. Lehrer des Abendlandes, 2013, zur Rezension

[9] Christine Kupfer, Bildung zum Weltmenschen. Rabindranath Tagores Philosophie und Pädagogik, 2013, zur Rezension

[10] Martha Craven Nussbaum, Politische Emotionen. Warum Liebe für Gerechtigkeit wichtig ist, 2014. zur Rezension

[11] Anton Pelinka, Hrsg., Vorurteile. Ursprünge, Formen, Bedeutung, 2012, zur Rezension

[12] Franz Josef Wetz, Rebellion der Selbstachtung. Gegen Demütigung, 2014, zur Rezension

[13] Tobias Künkler, Lernen in Beziehung. Zum Verhältnis von Subjektivität und Relationalität in Lernprozessen, Bielefeld 2011, zur Rezension

[14] Herbert Renz-Polster, Menschenkinder. Plädoyer für eine artgerechte Erziehung, 2011, zur Rezension

[15] Daniel N. Stern / Nadia Bruschweiler-Stern, Geburt einer Mutter. Die Erfahrung, die das Leben einer Frau für immer verändert, 2014, zur Rezension

[16] Dominique Grisard / Ulle Jäger / Tomke König, Hrsg., Verschieden sein. Nachdenken über Geschlecht und Differenz, 2013, zur Rezension

[17] Ingo Kramer, Herausforderung Bildungsgerechtigkeit. Zum fairen Umgang mit dem Leistungsprinzip, 2011, zur Rezension; siehe auch: Tamara Carigiet Reinhard, Schulleistungen und Heterogenität. Eine mehrebenenanalytische Untersuchung der Bedingungsfaktoren der Schulleistungen am Ende der dritten Primarschulklasse, 2012, zur Rezension

[18] Gabriele Jähnert, Hrsg., Kollektivität nach der Subjektkritik. Geschlechtertheoretische Positionierungen, 2013, zur Rezension

[19] Hans A. Pestalozzi, Nach uns die Zukunft, Bern / Stuttgart 1979 / 1982, S. 215

[20] Hans Jürgen Krysmanski, Hirten & Woelfe. Wie Geld- und Machteliten sich die Welt aneignen oder: Einladung zum Power Structure Research, 2014, zur Rezension; sowie: Joseph Nye, Macht im 21. Jahrhundert. Politische Strategien für ein neues Zeitalter, 2011, zur Rezension

[21] Arno Gruen, Wider den Gehorsam, 2014, zur Rezension; vgl. auch: Rainer Lehmann, Aufforderung zum Ungehorsam. Ein Pamphlet, 2013, https://www.socialnet.de/rezensionen/16098.php

[22] Jeremy Rifkin, Die empathische Zivilisation. Wege zu einem globalen Bewusstsein, 2010, zur Rezension

[23] Gerd Meyer, Lebendige Demokratie. Zivilcourage und Mut im Alltag, Baden-Baden 2004, in: socialnet Rezensionen, zur Rezension

[24] Dieter Lünse / Jörg Kowalczyk / Florian Wanke / Katty Nöllenburg, Zivilcourage können alle! Ein Trainingshandbuch für Schule und Jugendarbeit,2011, zur Rezension

[25] Martin Hartmann, Die Praxis des Vertrauens,  2011, zur Rezension

[26] Martin Jäggle / Thomas Krobath / Helena Stockinger / Robert Schelander, Hrsg., Kultur der Anerkennung. Würde - –Gerechtigkeit – Partizipation für Schulkultur, Schulentwicklung und Religion, 2013, zur Rezension

[27] Bernd Ulrich, in: DIE ZEIT, Nr. 3 vom 14. 1. 2016, S. 3ff

[28] Ahmet Toprak, „Wer sein Kind nicht schlägt, hat später das Nachsehen“. Elterliche Gewaltanwendung in türkischen Migrantenfamilien und Konsequenzen für die Elternarbeit, 2004, zur Rezension; sowie: Susanne Schröter, Hrsg., Geschlechtergerechtigkeit durch Demokratisierung? Transformationen und Restaurationen von Genderverhältnissen in der islamischen Welt, 2013, zur Rezension

[29] Gundula Müller, Arrangement und Zwang. Zur Reproduktion patriarchaler Strukturen durch türkische Migrantinnen in Deutschland, 2012, zur Rezension; siehe auch: Yvonne Riaño / Janine Dahinden, Zwangsheirat. Hintergründe, Massnahmen, lokale und transnationale Dynamiken, 2010, zur Rezension

[30] Oskar Negt, Der politische Mensch. Demokratie als Lebensform, 2010, zur Rezension; vgl. dazu auch: Julian Nida-Rümelin, Philosophie einer humanen Bildung, 2013, zur Rezension; sowie: Henning Ottmann / Stefano Saracino / Peter Seyferth, Hg., Gelassenheit – Und andere Versuche zur negativen Ethik, 2014, zur Rezension